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Der Professor

Titel: Der Professor
Autoren: John Katzenbach
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zu Hause.«
    Die Neun-Millimeter-Halbautomatik Mister Ruger,
dachte er. Die Waffe befand sich in der obersten Nachttischschublade neben seinem Bett. Das Dreizehn-Schuss-Magazin war zwar voll, doch ihm würde eine Kugel genügen.
    Der Arzt sagte noch einiges über häusliche Krankenpflege und Versicherungsbeiträge, über Vollmachten und Patientenverfügungen, längere Krankenhausaufenthalte und die Notwendigkeit, alle seine künftigen Arzttermine einzuhalten, seine Medikamente zu nehmen – auch wenn sie den Krankheitsverlauf kaum beeinflussen würden, könnten sie ja immerhin ein wenig helfen. Adrian erkannte, dass er den weiteren Ausführungen des Arztes keine Beachtung mehr zu schenken brauchte.
     
    Eingebettet in die Parzellen ehemaliger landwirtschaftlicher Flächen am Rande von Adrians kleiner Universitätsstadt, auf denen exklusive herrschaftliche Wohnsitze entstanden waren, befand sich ein Naturschutzgebiet mit einem Wildpark, der sich über einen bescheidenen Hügel erstreckte – von den Bewohnern als Berg bezeichnet, kam er in Wahrheit eher einer topographischen Bodenwelle gleich.
    Zum Mount Pollux wand sich ein Wanderweg hinauf, der zunächst durch den Wald und dann zu einer Lichtung führte, wo man einen prächtigen Ausblick über das Tal hatte. Es hatte ihn schon immer gestört, dass es neben dem Mount Pollux nicht auch noch einen Mount Castor gab, und er hatte sich gefragt, wer dem Hügel einen so hochtrabenden Namen gegeben hatte. Irgendein aufgeblasener Akademiker vermutlich, ein Mitglied der Fakultät vor zweihundert Jahren, als sie den Studenten am College in schwarzem Zwirn und gestärktem weißem Kragen die klassische Bildung eintrichterten. Doch trotz des fragwürdigen Namens und des allzu ehrenvollen Titels »Mount« war ihm dieser Ort im Lauf der Jahre ans Herz gewachsen. Es war ein stilles Fleckchen Erde, das die Hunde der Umgebung liebten, weil sie hier ohne Leine tollen durften, und das er selber mochte, weil er hier mit seinen Gedanken allein sein konnte.
    Er stellte seinen alten Volvo in einer Parkbucht am unteren Ende des Weges ab und machte sich zu Fuß an den vertrauten Aufstieg. Normalerweise hätte er bei dem aufgeweichten Boden Wanderstiefel getragen, und ihm war bewusst, dass er wahrscheinlich nicht weit kommen würde, ohne seine Schuhe zu ruinieren, doch er sagte sich, dass er sich darum jetzt keine Gedanken mehr zu machen brauchte.
    Der Nachmittag ging bereits zur Neige, und es zog ihm kalt den Rücken hoch. Er war für einen Spaziergang nicht richtig angezogen, und mit der Abenddämmerung schwebte ein letzter Winterhauch über die Wälder von Neuengland. Neben seinen durchnässten Schuhen ignorierte er auch die Kälte.
    Auf dem Pfad begegnete er keiner Menschenseele. Keine Golden Retriever, die auf einer Spur durchs Unterholz schossen. Nur Adrian mit stetigem Schritt. Er war dankbar für die Einsamkeit. Ihm kam der seltsame Gedanke, dass er womöglich bei einer zufälligen Begegnung einem wildfremden Menschen erzählen würde:
»Ich habe eine Krankheit, von der Sie noch nie gehört haben und an der ich sterben werde, nur dass sie mich bis dahin langsam, aber sicher lahmlegt.«
    Mit Krebs oder einer Herzerkrankung, dachte er, blieb man, während es einen umbrachte, zumindest der Mensch, der man war. Er empfand Wut und hätte am liebsten um sich geschlagen, doch stattdessen marschierte er einfach nur weiter den Hügel hinauf. Er horchte auf seinen Atem. Der war regelmäßig. Normal. Kein bisschen angestrengt. Ein gequältes Röcheln wäre ihm bedeutend lieber gewesen, irgendetwas, das ihm sagte, es gehe mit ihm zu Ende.
    Bis zum Gipfel, wenn man es so nennen wollte, brauchte er ungefähr eine halbe Stunde. Eine Hügelkette im Westen streifte das letzte Sonnenlicht, und er setzte sich auf eine große Moräne aus Schiefergestein und starrte ins Tal. Die ersten Zeichen des Neuengland-Frühlings waren schon deutlich zu erkennen. Er sah die ersten Blumen, vor allem gelbe und violette Krokusse, die aus der feuchten Erde gekrochen waren, erste grüne Blattknospen bedeckten die Zweige der Bäume wie ein Dreitagebart. Über ihm formierte sich ein Schwarm kanadischer Wildgänse auf dem Flug nach Norden zu einem langgestreckten V. Ihr heiseres Schreien hallte vom blassblauen Himmel wider. Das alles war so normal, dass er sich ein wenig albern vorkam, weil das, was in ihm vor sich ging, mit dem Rest der Welt nicht im Einklang war.
    In der Ferne konnte er die Türme der Kirche im Zentrum
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