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Der Professor

Titel: Der Professor
Autoren: John Katzenbach
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an den eingefallenen Wangen und dem Kinn. Seine Augen waren trüb. Sie konnte unmöglich sagen, ob er sie erkannte.
    Sie fand einen Stuhl und zog ihn neben den alten Professor heran. Als Erstes sagte sie: »Ich bekomme glatte Einsen in meinem Hauptfach – nein,
unserem
Hauptfach, Professor. Und im nächsten Jahr wird es genauso sein. Ich bleib am Ball, egal, wie lange es dauert, und was Sie angefangen haben, das bringe ich zu Ende, versprochen.«
    Sie hatte sich diese Rede tagelang im Kopf zurechtgelegt. Sie sprach zum ersten Mal darüber. Meistens hatte sie ihm einfachere Dinge erzählt, wie sie zum Beispiel die Highschool abgeschlossen und ans College gegangen war, und dann, welche Seminare sie belegte und was sie von den Lehrern hielt, die einmal seine Kollegen gewesen waren. Manchmal erwähnte sie einen neuen Freund oder auch etwas so Banales wie den neuen Job ihrer Mutter und wie sie sich davon erholt zu haben schien, dass sie mit Scott West Schluss gemacht hatte.
    Doch meistens las sie ihm Gedichte vor. Sie war inzwischen recht gut in der Betonung, im Rhythmus und in den sprachlichen Nuancen; sie erkannte die subtilsten Zwischentöne in den Versen und fing sie für den alten Mann ein – auch wenn sie wusste, dass er ihre Worte nicht mehr aufnahm oder verstand. Was zählte, war,
es gesagt zu haben
.
    Jennifer beugte sich vor und nahm seine Hand. Sie war zart wie Seidenpapier. Sie hatte recherchiert und es sich in Gesprächen mit dem Personal des Pflegeheims bestätigen lassen: Professor Thomas ging einfach unaufhaltsam dem Tod entgegen. Niemand konnte irgendetwas gegen die Qualen tun, sondern nur hoffen, dass er mit schwindender Gehirnfunktion keine allzu schlimmen Schmerzen litt.
    Doch sie wusste es besser. Sie sah den Mann, der sie gerettet hatte, mit einem Lächeln an. »Ich dachte, heute vielleicht ein bisschen Lewis Carroll, Professor? Würde Ihnen das gefallen?« An seinem Mundwinkel tropfte ihm ein wenig Speichel herunter. Jennifer nahm ein Papiertuch und wischte ihn behutsam weg. Aus ihrer Sicht hatte er eine Menge Todesnähe erfahren; eigentlich hätte er längst an der schrecklichen Krankheit und den schweren Schussverletzungen sterben müssen, aber das war er nicht; die Wunden hatten ihn nur gelähmt. Es war nicht fair.
    Sie griff in ihren Rucksack und zog einen Gedichtband heraus. Sie sah sich um. Ein paar andere Patienten wurden durch den nahe gelegenen Garten gefahren, wo sie die Blumenbeete bewundern konnten, doch auf der Terrasse waren sie für sich. Jennifer glaubte nicht, dass sich ihr noch einmal ein besserer Moment bieten würde, um dem Professor vorzulesen. Sie schlug das Buch auf, doch die ersten Zeilen konnte sie auswendig zitieren: »Verdaustig wars, und glaße Wieben/Rotterten gorkicht im Gemank …«
    Die Sammlung war ein dickes Buch – eine Anthologie von mehreren Generationen englischer und amerikanischer Dichter –, und sie hatte eine kleine Spritze zwischen die Seiten gesteckt. Vor einem halben Jahr hatte Jennifer sie bei einem Besuch in der Gesundheitsstation der Uni mitgehen lassen, ein kleiner Taschenspielertrick, während sie wegen einer vorgetäuschten Bronchitis hustete.
    Die Spritze enthielt eine Mischung aus Fentanyl und Kokain. Das Kokain hatte sie sich mühelos von einem der vielen Studenten beschaffen können, die sich durchs College arbeiteten. An das Fentanyl heranzukommen war schwieriger gewesen. Es war ein starkes Narkotikum, das in der Krebstherapie verwendet wurde, um die schlimmen Nebenwirkungen der Chemotherapie zu lindern. Es hatte sie ein paar Monate gekostet, sich mit einem Mädchen anzufreunden, das auf demselben Flur wohnte und dessen Mutter an Brustkrebs litt. An einem Wochenende bei dem Mädchen zu Hause in Boston war es Jennifer gelungen, ein halbes Dutzend Tabletten aus einem Medizinschränkchen zu stehlen. Das hier war mehr als eine tödliche Dosis. Sie würde binnen Sekunden zum Herzstillstand führen. Sie hatte sich wegen des Diebstahls und des Verrats an ihrer neuen Freundin schlimm gefühlt, doch das war nun mal nicht zu ändern. Sie musste ein Versprechen halten.
    Während sie den Hemdsärmel des Professors zurückkrempelte, rezitierte sie weiter. »Hab acht vorm Zipferlak, mein Kind!/Sein Maul ist beiß, sein Griff ist bohr!« Jennifer sah sich noch einmal um und vergewisserte sich, dass niemand sah, was sie tat.
    »Mit eins! Und zwei! Und bis aufs Bein! Die biffe Klinge ritscheropf!«
    Sie hatte keine Erfahrung damit, eine Injektion zu
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