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Der Professor

Titel: Der Professor
Autoren: John Katzenbach
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in seiner eigenen Straße gekidnappt wurde. Das war ein schreckliches Unrecht, und so hatte er alles getan, was seine tote Frau, sein toter Bruder und sein toter Sohn von ihm erwarteten. Es hatte alles irgendwie zu seinem Sterben dazugehört, und er hatte nichts dagegen einzuwenden. Er hatte sein Bestes getan, und vielleicht konnte Jennifer wegrennen und erwachsen werden und leben. Das war es wert.
    Adrian schloss die Augen. Er hörte den Knall der Pistole. Doch anders als erwartet ereilte ihn nicht nach Bruchteilen von Sekunden der Tod.
    Er spürte immer noch die feuchte Erde an der Wange. Er merkte, wie sein Herz pumpte und wie ihm die Schmerzen durch den ganzen Körper wogten. Er spürte sogar seine Krankheit, als nutzte sie die Situation heimtückisch aus und drängte sich in den Vordergrund.
    Mit jeder Faser seines Seins hatte er versucht, sie niederzuringen, doch jetzt hatte er ihr nichts mehr entgegenzusetzen. Er verstand nicht, wieso, merkte jedoch, wie ihm die Erinnerungen entglitten und ihn der Verstand verließ. Er wollte ein letztes Mal seine Frau, seinen Sohn und seinen Bruder hören. Er sehnte sich nach einem Gedicht, das ihn auf dem Weg in den Wahnsinn, das Vergessen und den Tod begleitete. Doch in seinem Innern hörte er nichts weiter als den tosenden Wasserfall der Demenz, der die letzten Teile von ihm, die sich noch ans Leben klammerten, mit sich riss.
    Er öffnete blinzelnd die Augen. Was er vor sich sah, schien ihm mehr als alle seine toten Geister eine Halluzination zu sein. Die Frau lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Von ihrem Kopf war nur eine blutende Masse übrig geblieben.
    Und hinter ihr: Mark Wolfe, der Detective Collins’ Pistole in der Hand hielt.
    Adrian wollte lachen, denn er hätte es vernünftig gefunden, mit einem Lächeln auf den Lippen zu sterben. Er schloss die Augen und wartete ab.
     
    Der Sexualstraftäter betrachtete das Blutbad vor dem Bauernhaus und murmelte immer wieder: »Du lieber Gott, du lieber Gott, du lieber Gott«, auch wenn die Worte keinem Glauben oder religiösen Gefühl entsprangen, sondern dem Schock. Er hob die Pistole der Polizistin zum zweiten Mal, ohne auf irgendetwas zu zielen, und ließ sie sinken, nachdem er sicher war, dass er keine Verwendung mehr dafür hatte. Er sah den Laptop auf dem Dach des Trucks und die Kamera, die alles wahrheitsgetreu festhielt.
    Nachdem das letzte Echo der Schüsse verklungen war, herrschte vollkommene Stille. »Du lieber Gott«, wiederholte er noch einmal. Er betrachtete Detective Collins und schüttelte den Kopf.
    Dann ging er langsam zu Adrians Leiche hinüber – und war erstaunt, als der alte Mann blinzelnd die Augen öffnete. Er war schwer verwundet, und es sah nicht danach aus, dass er es schaffen würde. Dennoch hockte er sich neben ihn und redete ihm gut zu: »Sie sind ein zäher alter Bursche, Professor. Halten Sie durch.«
    Wolfe hörte, wie sich rasch Sirenen näherten. »Da kommt Hilfe«, sagte er. »Sie dürfen nicht aufgeben. Die sind jeden Moment da.« Ihm lag schon auf der Zunge:
Sie schulden mir einiges mehr als zwanzig Riesen,
doch die Bemerkung verkniff er sich. Stattdessen drängte sich ihm in diesem Moment ein Hochgefühl auf, eine Mischung aus Stolz und der Erkenntnis:
Ich bin ein Held! Ich bin ein gottverdammter Held! Ich habe eine Polizistenmörderin zur Strecke gebracht. Die werden mich nie wieder grundlos schikanieren, egal, was ich mache. Ich bin frei.
    Die Sirenen kamen immer näher. Wolfe wandte sich von dem verwundeten Professor ab, und bei dem Anblick, der sich ihm in diesem Moment bot, bekam selbst er den Mund nicht mehr zu. Ein splitternacktes junges Mädchen trat hinter der baufälligen Scheune hervor. Sie machte keine Anstalten, ihre Blöße zu bedecken, sondern hielt sich ihr Stofftier ans Herz.
    Als Jennifer über die offene Fläche gelaufen kam, stand Wolfe auf und trat zur Seite. Sie kniete sich genau in dem Moment neben Adrian, als der erste Streifenwagen der Staatspolizei in die Einfahrt des Bauernhauses einbog. Wolfe zögerte, doch dann zog er seine eigene leichte Jacke aus. Er legte sie Jennifer um die Schulter – teils aus Takt, vor allem aber, um die Porzellanhaut der jungen Frau zu berühren. Seine Finger strichen leicht über ihren Oberarm, und er seufzte, als er die elektrisierende Wirkung spürte.
    Hinter ihnen kamen mit quietschenden Reifen Streifenwagen zum Halten, und Waffen schwingende Beamte sprangen heraus, brüllten Befehle, gingen hinter geöffneten
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