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Der Professor

Titel: Der Professor
Autoren: John Katzenbach
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des Universitätscampus erkennen. Das Baseballteam würde im Schlagtunnel trainieren, weil das Feld noch unter einer Plane steckte. Nicht weit davon hatte er sein Dozentenzimmer gehabt und – wenn er um diese Jahreszeit nachmittags das Fenster öffnete – das ferne Geräusch eines Schlägers am Ball gehört. So wie ein Rotkehlchen, das irgendwo in einem Innenhof der Colleges nach einem Wurm scharrte, war es für ihn nach einem langen Winter stets ein willkommener Frühlingsbote gewesen.
    Adrian holte tief Luft. »Geh nach Hause«, befahl er sich laut und vernehmlich. »Erschieß dich, solange all diese Dinge, die dir Freude bereitet haben, noch real sind. Denn die Krankheit nimmt sie dir weg.«
    Er hatte sich immer zugutegehalten, ein entschlussfreudiger Mensch zu sein, und so passte es zu seinem Naturell, durch Selbstmord einen klaren Schlussstrich zu ziehen. Er suchte nach Argumenten für einen Aufschub, doch ihm fielen keine ein.
Vielleicht,
überlegte er,
bleibst du einfach hier
. Es war eine schöne Stelle. Einer seiner Lieblingsorte. Ein guter Ort zum Sterben. Er fragte sich, ob es im Lauf der Nacht kalt genug würde zum Erfrieren. Er bezweifelte es. Eher würde er wohl nur stundenlang frösteln und husten und dann den Sonnenaufgang erleben, was peinlich wäre, auch wenn er der einzige Mensch auf der Welt wäre, für den der Anblick des Sonnenaufgangs eine Niederlage bedeutete.
    Adrian schüttelte den Kopf.
Sieh dich um,
dachte er.
Was es wert ist, behalte im Gedächtnis. Das Übrige vergiss.
Er betrachtete seine Schuhe. Sie waren lehmverkrustet und durchnässt, und er wunderte sich, dass sich seine Zehen nicht klamm anfühlten.
    Bringen wir’s hinter uns,
beharrte er. Adrian stand auf und klopfte sich den Schieferstaub von der Hose. Er sah, wie die Schatten durch die Bäume und das Unterholz sickerten und der Pfad den Hügel hinab mit jeder Minute, die verstrich, dunkler wurde.
    Er warf einen letzten Blick ins Tal.
Da habe ich unterrichtet. Dort drüben haben wir gewohnt.
Er wünschte sich, bis zu dem Loft in New York sehen zu können, in dem er seine Frau kennengelernt und sich in sie verliebt hatte. Er wünschte sich, all die Stellen noch einmal zu sehen, an denen er aufgewachsen war. Er wünschte sich, die Rue Madeleine in Paris und das Bistro an der Ecke zu sehen, in dem er in seinen Freisemestern mit seiner Frau den Frühstückskaffee getrunken hatte, oder das Hotel Savoy in Berlin, wo sie in der Marlene-Dietrich-Suite logierten, als ihn das Institut für Psychologie zu einem Vortrag eingeladen hatte, und wo sie ihr einziges Kind zeugten. Er blickte angestrengt nach Osten, zu dem Haus am Cape, in dem er seit seiner Jugend viele Sommer verbracht hatte, und zu den Stränden, an denen er gelernt hatte, dem Streifenbarsch Fliegen auszuwerfen, oder auch zu den hiesigen Forellenbächen, in denen er zwischen uralten Kieseln im sprudelnden, gurgelnden Wasser gewatet war.
    Eine Menge, was mir entgeht,
räumte er ein.
Nichts zu machen.
Er kehrte all dem, was er sehen oder auch nicht sehen konnte, den Rücken und machte sich auf den Weg zurück. In der einsetzenden Dunkelheit wurde der Abstieg beschwerlich.
     
    Nicht mehr weit von seinem Haus entfernt, fuhr er auf einer Querstraße langsam zwischen den Reihen bescheidener Einfamiliendomizile entlang, weißen, schindelverkleideten Bauten, in denen eine bunte Mischung aus Universitätsdozenten, Versicherungsangestellten, Zahnärzten, freiberuflichen Textern, Yogalehrern und Life-Coachs lebten, als er das Mädchen auf dem Bürgersteig entdeckte.
    Er hätte sie kaum beachtet, wäre ihm nicht ihr entschlossener Schritt ins Auge gefallen. Sie schien genau zu wissen, was sie wollte. Sie hatte aschblondes Haar, das sie unter ihre leuchtend rosa Kappe der Boston Red Sox geschoben hatte, und ihr dunkler Parka war ebenso wie die Jeans an mehreren Stellen aufgerissen. Ungewöhnlich war ihr Rucksack, der prall mit Kleidern vollgestopft schien. Zuerst nahm er an, dass sie mit dem letzten Bus, der die zum Nachsitzen verdonnerten Kinder nach Hause brachte, aus der Highschool gekommen war und nun noch ein kleines Stück nach Hause lief. Doch an ihrem Rucksack baumelte ein großer Teddybär, und er konnte sich nicht erklären, wieso jemand ein Kinderspielzeug in die Highschool mitnehmen sollte. Sie hätte sich damit unweigerlich zum Gespött gemacht.
    Als er langsam an ihr vorbeifuhr, warf er einen Blick auf ihr Gesicht. Sie war jung, fast noch ein Kind, dachte er, doch sie
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