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Der Prinzessinnenmörder

Der Prinzessinnenmörder

Titel: Der Prinzessinnenmörder
Autoren: Andreas Föhr
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Ellbogen ins Gesäß und gab mit einem »Spinnst jetzt?« zu verstehen, dass er keine Marschunterbrechungen wünschte. So trottete der junge Polizist weiter, immer gebückt, immer den Schein der Taschenlampe ein wenig voraus. Die achtzig Meter zogen sich. Nach einer Weile hob Beni Schartauer, um den verbleibenden Weg abschätzen zu können, die Taschenlampe in die Waagerechte und erschrak dermaßen, dass er sich ruckartig aufrichtete, mit dem Kopf gegen die Decke rumste und fluchend auf die Knie sank. Da vorn, fünf Meter weiter, war ein schmiedeeisernes Gitter aufgeschienen, dahinter ein Berg von Totenschädeln und anderen menschlichen Knochen.
    »Des is des alte Beinhaus«, sagte Kreuthner. »Gib her.«
    Kreuthner nahm die Taschenlampe an sich und leuchtete nach oben. Das Tonnengewölbe des Ganges endete zwei Meter vor dem Gitter. Nach dem Gewölbeende tat sich ein kleiner Raum auf, wenig höher als der Gang. Auch hier war es nicht möglich, aufrecht zu stehen. Kreuthner brauchte nicht lange, um zu finden, was er suchte: eine Steinplatte an der Decke des kleinen Raums. Er stemmte sich gegen die Platte, die sich mit tönernem Knirschen aus der Deckenverschalung lösen und zur Seite schieben ließ. Der Geruch kalten Weihrauchs stieg Kreuthner in die Nase. Er entstieg dem Untergrund und fand sich, wie erwartet, in einem kleinen Nebenraum am vorderen Ende des Kirchenschiffs wieder. Um den jungen Kollegen noch einmal zu äußerster Stille zu gemahnen, legte Kreuthner den Zeigefinger an die Lippen, bevor er Schartauer aus dem Loch half. Aus dem Hauptraum der Kirche war eine Stimme zu hören, zunächst undeutlich und vom Hall verzerrt. Doch dann schrie die Stimme die Worte: «Sie ist tot! Tot! Verstehen Sie? Meine Tochter ist tot!!!« Die Schreie gingen Beni Schartauer durch Mark und Bein. Und auch in den Augen des sonst abgebrühten Kollegen Kreuthner nistete für einige Sekunden das Grauen.
     
    Rathberg wurde wieder ruhig. Eine Weile verharrte sein Kopf reglos vor der Webcam. Sein Gesicht wurde vom Licht des Bildschirms erhellt. Das Gesicht eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hat, dachte Wallner. Und das war in dieser Lage extrem beunruhigend. Hatte Rathberg wirklich nichts zu verlieren? Irgendetwas hat jeder zu verlieren, überlegte Wallner. Und dabei kam ihm Bernhard Dichl in den Sinn. Wie er dagesessen war auf der gefällten Fichte. Die Kettensäge neben sich im Schnee. Auch Dichl ein Mann, der sein einziges Kind verloren hatte. Aber Dichl hatte mehr zu verlieren. Seine Frau und – noch ein Kind. Seltsam. Daran hatte Wallner keine Sekunde mehr gedacht. Conny Polcke war Dichls Tochter. Bei diesem Gedanken verweilte Wallner. Genauer gesagt verweilte der Gedanke bei Wallner, ging einfach nicht mehr fort. Wallner war zunächst nicht klar, was der Gedanke ihm sagen wollte. Doch dann zuckte ihm etwas durch den Kopf. Es war ein Moment schwereloser Klarheit, in dem – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick – die Gesamtheit der verfahrenen Situation vor Wallner ausgebreitet lag. Und mit einem Mal war sie gar nicht so verfahren. Denn es gab etwas, das Wallner übersehen hatte. Etwas, das, recht eigentlich betrachtet, ungeheuerlich war. Wallner bedachte noch einmal alles, was er über jene Nacht des Faschingsdienstags 1990 erfahren hatte. Wenn es stimmte, was er vermutete, dann gab es noch eine Chance für das Mädchen in der Kirche. Es war abenteuerlich, es war abstrus. Aber es war eine Chance.
    »Sind Sie sicher?«, sagte Wallner.
    Rathberg schreckte aus einer tranceartigen Starre. »Wessen sicher?«
    »Dass Ihre Tochter tot ist.«
    Zum ersten Mal schien Rathberg ernsthaft irritiert zu sein.
    »Ich verstehe nicht ganz?«
    »Wirklich nicht?«
    Rathberg stand auf und nahm das Stilett wieder fest in die Hand. »Herr Wallner – Sie haben getan, was Sie konnten. Wir sehen uns beim Verhör.« Er drehte sich um und ging auf das Mädchen zu.
    »Sie haben mich nicht ganz verstanden«, sagte Wallner ins Handy. »Ich will nicht Zeit schinden. Es war eine ernstgemeinte Frage.«
    Rathberg drehte sich noch einmal zur Kamera.
    »Warum haben Sie ihr Gesicht zugedeckt«, fragte Wallner.
    »Aus Gründen der Pietät.«
    »Nein. Weil Sie den Anblick ihrer Augen nicht ertragen. Sie kennen diese Augen.«
    Rathberg zuckte unmerklich. Der Moment auf dem Friedhof schien noch einmal vor ihm auf. Der Moment, in dem Conny Polckes Augen in der Wintersonne geleuchtet hatten. So wie sich vor siebzehn Jahren in Lisas Augen das letzte
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