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Der Priester

Der Priester

Titel: Der Priester
Autoren: Gerard O'Donovan
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hatte sie nicht gemerkt, dass er gehalten hatte. Anscheinend merkte sie im Moment sowieso nicht viel. Ihm stockte vor Aufregung der Atem, als sie Schritt für Schritt näher kam und er sie zum ersten Mal richtig ansehen konnte. Dunkle Haare, schulterlang und glänzend, ein enges, weißes Oberteil, das ihre Brust betonte und einen Streifen Bauch freiließ, darunter ein winziger Fetzen, der ihr Hinterteil gerade bedeckte. Am Hals schimmerte Edelmetall. Typisch.
    Er versuchte, ruhig zu atmen, nutzte die Entspannungstechnik, die der Arzt ihm beigebracht hatte. Er konzentrierte sich, achtete darauf, dieses Mal alles richtig zu machen. Im Kopf war er es immer wieder durchgegangen, die Erfahrung hatte ihn jedoch gelehrt, dass er in solchen Situationen mit unvorhersehbaren Ereignissen rechnen und entsprechend reagieren musste. Ein paar Meter noch. Er schloss die Augen, bekreuzigte sich und zählte von zehn an rückwärts. So war es einfacher. In der linken Hand hielt er den Sack, die rechte lag auf dem Griff der seitlichen Schiebetür. Stundenlang hatte er daran gearbeitet, den Gleitmechanismus zu verbessern. Dann riss er die Tür auf, sprang aus dem Wagen, landete perfekt nur gut einen Meter vor ihr, die rechte Hand jetzt zur Faust geballt, die wie eine Rakete direkt auf ihr Gesicht zuschoss. Sie war so überrascht, dass sie nicht einmal dazu kam, einen Schritt zurückzutreten – oder auch nur Angst zu empfinden.

1
    »Wie bitte?« Die Frau an der Rezeption der Notaufnahme beugte sich leicht vor, als sie Mulcahy stirnrunzelnd ansah.
    »Mul-kah-hie«, wiederholte er und zog jede Silbe etwas länger als die vorherige. Automatisch. Vergaß einen Moment lang, wo er war. Im Ausland war sein Nachname die reinste Plage gewesen. Er war auf jede erdenkliche Art ausgesprochen worden, nur niemals richtig. Aber hier in Dublin? Die Frau sah ihn mit finsterem Blick an, als wollte er sie auf den Arm nehmen. Er griff in seine Jackentasche, zog den Dienstausweis heraus, klappte ihn auf und hielt ihn ihr vor die Nase.
    » Inspector Mulcahy«, betonte er. »Ich habe gehört, dass ich Inspector Brogan hier finde?«
    »Oh«, sagte sie und erstarrte wie die meisten Leute beim Anblick des Polizeiausweises. »Natürlich, Inspector, einen Moment.«
    Während sie telefonierte, sah Mulcahy sich im heruntergekommenen Wartebereich um. Es war sehr still. Hier und da saßen ein paar verzweifelte Patienten auf den aufgereihten, orangefarbenen Plastikstühlen. Ein Rentnerpaar, grau, entkräftet, das sich damit abgefunden hatte, warten zu müssen. In der ersten Reihe eine schwangere Frau. Ihr milchgesichtiger Mann hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt, streichelte mit der anderen ihren runden Bauch und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die anderen schienen an den üblichen Sport- und Heimwerkerverletzungen zu leiden. Sie humpelten in offenen Fußballschuhen herum oder umklammerten ihre von einer Nagelpistole durchlöcherten Finger. Wahrscheinlich ein ganz normaler Sonntag im St. Vincent’s Hospital, dachte er verärgert darüber, dass er hierher beordert worden war.
    Auf der Fahrt zum Krankenhaus hatte er in seinem Saab zum wunderschönen, blauen Himmel aufgeblickt und Superintendent Brendan Healy dafür verflucht, dass er ihn an seinem freien Tag einbestellt hatte. Es lag weniger daran, dass er Probleme hatte, Befehle zu akzeptieren, nachdem er so lange in Spanien mehr oder weniger sein eigener Chef gewesen war. Schließlich war er Polizist, und da gehörten Befehle einfach dazu. Auch wenn ihm der Respekt für seine Vorgesetzten nicht in die Wiege gelegt worden war, hatte er im Lauf der Jahre doch immer einen Weg gefunden, mit der Hierarchie umzugehen – vor allem, indem er alles in seiner Macht Stehende dafür tat, in ihr aufzusteigen. Was ihm weitaus größere Probleme bereitete, war, sich wieder in Dublin einzuleben. Alle, die er von früher kannte, schienen bis zum Hals mit ihren Kindern und ihrem Alltag beschäftigt zu sein. Umso mehr hatte er sich auf den Segeltörn gefreut, den er mit ein paar Jungs vom Bootsclub in Dun Laoghaire heute hatte machen wollen. Endlich hätte er wieder den salzigen Geruch des Meeres in die Nase bekommen, die steifen Muskeln strecken und hinterher bei ein paar Bieren in der Bar noch etwas herumflachsen können … Mist. Eine Viertelstunde später wären sie auf dem Wasser gewesen.
    »Ich hatte nicht gefragt, ob Sie Lust dazu haben«, hatte Healy ins Telefon gefaucht, als Mike seine Eignung für diese Aufgabe in Frage
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