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Der Priester

Der Priester

Titel: Der Priester
Autoren: Gerard O'Donovan
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auf Rinn gestürzt. Jede auch noch so versteckte Episode seines Lebens wurde bloßgelegt, zerfleddert und von halbseidenen Experten interpretiert. Niemand schien überhaupt zu bemerken oder sich gar dafür zu interessieren, dass Emmet Byrne hundertprozentig rehabilitiert aus der Haft entlassen worden war. Oder dass Catriona Plunkett und Shauna Gleeson, die beiden schwer verletzten Opfer Rinns, im Krankenhaus noch um ihr Leben kämpften. Die eine oder andere Zeitung hatte ihnen ein bis zwei Absätze gewidmet, doch der Rest trampelte einfach wie in einer Stampede über sie hinweg, um Rinn seine gerechte Strafe zukommen zu lassen.
    Mulcahy verfluchte sie innerlich. Soweit er das beurteilen konnte, interessierten sich nur sehr wenige Journalisten für die Wahrheit – ihr Hauptziel war es, ihrer Stimme im Medienrummel Gehör zu verschaffen.
    Natürlich machte sich auch Mulcahy seine Gedanken über Rinn. Während er nachts wach lag, weil der Schlaf ihm keine Ruhe brachte, dachte er gründlich über den Mann nach. Die meisten Gedanken führten allerdings ins Nichts. Jeder Psychiater hätte bestätigt, dass Rinn an Schizophrenie und Paranoia litt und in dem Glauben handelte, seine Anweisungen direkt vom heiligen Paulus zu bekommen. Doch das interessierte Mulcahy nicht. Ein Beweisstück jedoch schien ihm die Erklärung zu geben, nach der er suchte. Eins, über das die Zeitungen nicht berichtet hatten. Ein anonymer Gratulant hatte es ihm mit ein paar Genesungswünschen aus Kerry geschickt – offenbar ein Kollege von der Polizei, da es in einem Garda-Aktendeckel ankam: die Fotokopie des Berichts des tragischen Verkehrsunfalls, bei dem Sean Rinns Eltern im Jahr 1974 ums Leben gekommen waren. Er enthielt auch die Abschrift der Notizen der Polizisten, die als Erste etwa zehn bis fünfzehn Minuten nach dem Zusammenstoß am Unfallort eingetroffen waren. Demnach waren Rinns Eltern direkt bei dem Aufprall gestorben. Der kleine, gerade einmal sechs Jahre alte Junge war vom Rücksitz nach vorne geschleudert worden, wo er im leblosen Schoß seiner Mutter lag, als das Auto in Brand geriet und alles um ihn herum in Flammen aufging. Nur die Tapferkeit des anwesenden Garda John Reynolds hatte ihm das Leben gerettet – der sein eigenes Leben riskiert, sich ins Feuer gestürzt und den widerstrebenden, sich selbst in dieser Situation an seine tote Mutter klammernden Jungen herausgezogen hatte. In einer Fußnote am unteren Seitenrand wurde ergänzt, die Hitze wäre so groß gewesen, dass sich das kleine Kruzifix, das sich vom Hals der Mutter gelöst hatte, förmlich in die Handfläche des Jungen gebrannt hatte. Erst Tage später, nachdem sich der Zustand des Kindes stabilisiert hatte, konnte es durch einen chirurgischen Eingriff im Killarney District Hospital entfernt werden.
    Das verstand Mulcahy. Und mehr brauchte er auch nicht. Das Entscheidende an der ganzen Sache war, dass Rinn eine junge Frau getötet und sechs anderen das Leben ruiniert hatte. Und natürlich, dass man ihn erwischt hatte. Das half Mulcahy durch die Alpträume und die nächtlichen Schweißausbrüche – denn nach dem Aufwachen wusste er, dass er Rinn gestoppt hatte.
    Und das machte auch seinen aktuellen Status erträglich: Er war »bis zur Anhörung wegen eines schwebenden Disziplinarverfahrens vom Dienst suspendiert«. Zumindest bekam er die Gelegenheit, seinen Fall vor einer Kommission zu präsentieren und war nicht auf Brendan Healys Wohlwollen angewiesen. Das Haar in der Suppe war natürlich Cassidy. Der Sergeant war am Tag nach Rinns Festnahme ins Krankenhaus gekommen und hatte Mulcahy angefleht, ihn nicht bei der Innenrevision wegen der Weitergabe sensibler Informationen zu verpfeifen. Wenn »flehen« überhaupt das richtige Wort war für das missmutige, schmeichlerische Geschwätz, mit dem er sich zu rechtfertigen versucht hatte – unter anderem, dass er ja das Geld von Siobhan gar nicht genommen hätte, aber auch, dass Mulcahys Vater ihm vor Jahren vollkommen grundlos die Chance auf eine Beförderung versaut hätte. Mulcahy wusste jedoch, dass sein Vater immer ein guter Menschenkenner gewesen war – wahrscheinlich hatte er Cassidys Verdorbenheit sofort erkannt.
    Trotzdem hatte Mulcahy das Gefühl, dass er den Sergeant jetzt nicht einfach in die Scheiße reiten konnte. Schließlich hatte der Mann ihm das Leben gerettet. Er war sich allerdings noch nicht sicher, ob er die Sache ganz fallen lassen sollte. Das musste er sich in Ruhe überlegen. Aber nicht jetzt.
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