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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Autoren: Andreas Wirsching
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Roma, einem überdurchschnittlichen Arbeitsmarkt- und damit auch Armutsrisiko ausgesetzt.[ 79 ] Insgesamt bestand daher in Ländern wie Rumänien, aber auch Polen ein starker, ökonomisch bedingter Druck zur Auswanderung bzw. zur Annahme auswärtiger Saisonarbeit.
    Den wirtschaftlichen Übergang der osteuropäischen Länder begleitete überdies der Niedergang der Gewerkschaften, oder besser: das Scheitern der Versuche, freie, nicht bevormundete gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen. In den meisten kommunistischen Staaten hatte ja bis 1989 eine Art Zwangsmitgliedschaft in den Gewerkschaften bestanden, so daß ein Rückgang der Mitgliedschaft nach dem Umbruch zu erwarten war; was faktisch eintrat, war allerdings ein freier Fall sowohl der Mitgliedschaft als auch der gewerkschaftlichen Autorität am Arbeitsplatz. Kollektive Solidarität, Verhandlungsmacht und politischer Einfluß der neu begründeten Gewerkschaften tendierten gegen null. Ein Jahrzehnt nach dem Umbruch von 1989 waren sie weitgehend marginalisiert. Die Quote der gewerkschaftlichen Organisation war deutlich hinter diejenige Westeuropas zurückgefallen.[ 80 ]
    Erstaunlicherweise galt dies auch für Polen, wo ja die Solidarność-Bewegung als Gewerkschaft begonnen hatte. Nach 1989 war Solidarność allerdings nicht in der Lage, die industriellen Beziehungen gewerkschaftlich zu durchdringen. Politisch setzte die sich ohnehin spaltende Bewegung andere Prioritäten. Auf die Wut in der Bevölkerung, die sich aus der Kombination aus forcierter Liberalisierung und wirtschaftlicher Malaise speiste, wußte Solidarność keine Antwort. Tatsächlich verloren in Polen die liberalen Kräfte die Masse der Arbeiterschaft, in der teilweise rechtspopulistische Positionen Widerhall fanden.[ 81 ]
    Alle diese Indikatoren wiesen auf einen doppelten Prozeß hin: Auf der einen Seite akkumulierte sich der von der Globalisierung ausgehende Anpassungs- und Flexibilisierungsdruck in besonderer Weise in den postkommunistischen Ländern, die ja ihre Wirtschaft ohnehin völlig neu ordnen mußten. Im Durchschnitt litten hier die Erwerbstätigen unter größeren Risiken als im Westen. Auf der anderen Seite war ein Trend zur Angleichung unverkennbar. Zumindest in den ostmitteleuropäischen Ländern setzte der Wirtschaftsaufschwung gegenüber den EU 15 einen nachhaltigen Aufholprozeß in Gang; und den dafür gezahlten Preis – Zwang zur «flexiblen» Existenz, erhöhtes Arbeitsmarktrisiko und zunehmend massenhafte Verwundbarkeit auf dem Markt – teilten sie mit immer breiteren Schichten in den westeuropäischen Gesellschaften.
    Vor diesem Hintergrund ließ, wie häufig festgestellt worden ist, die Kampfkraft der Industriearbeiterschaft und ihrer Gewerkschaften massiv nach. Tatsächlich hatte schon das fordistische Produktionsmodell nach 1945 entscheidend dazu beigetragen, die europäische Klassengesellschaft und den ihr innewohnenden Gegensatz zu überwinden. Das gilt in ökonomischer Hinsicht durch die Steigerung der Produktivität, die den keynesianischen Konsens und die Expansion des europäischen Wohlfahrtsstaates erlaubte. Aber das gilt auch in (massen-)kultureller Hinsicht: Das doppelt erfüllte Versprechen des Massenkonsums und des Freizeitgewinns löste den Zusammenhang von Arbeit und privater Lebensführung auf. Es standardisierte die Lebensläufe neu im Rhythmus einer sich verkürzenden rationalisierten Arbeitszeit und eines wachsenden Konsums uniformierter massenkultureller Produkte. Dies hegte den säkularen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ein. Es domestizierte ihn und transformierte ihn in ein neues kulturelles Gleichgewicht.
    Seit den 1980er Jahren erodierten Fordismus und keynesianischer Konsens im Zeichen von Wirtschaftskrise und Globalisierung. Jetzt allerdings, indem das von ihnen bestimmte Modell kontrahierte oder sogar zusammenbrach, provozierte es die kollektive Aktion der Arbeiter. Mobilisierendwirkte die Angst um den Arbeitsplatz: Arbeiter organisierten sich, um eben jenes Modell zu verteidigen, das ihnen über eine Generation hinweg Sicherheit und Wohlstand gegeben hatte. In den 1980er Jahren ging es dabei um die alten Industrien, die in die Dauerkrise gerieten. Ihre Schrumpfung führte die Arbeiter auf die Straße: vom epischen Duell zwischen der Thatcher-Regierung und den britischen Kohlebergleuten, die auf Arthur Scargill vertrauten, über die norddeutschen Werftarbeiter, die ihre Produktionsstätten wochenlang besetzt hielten, bis zum Saarland und zum
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