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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition)
Autoren: Colson Whitehead
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ER HATTE SCHON IMMER in New York wohnen wollen. Sein Onkel Lloyd wohnte downtown in der Lafayette, und in den langen Zeiträumen zwischen Besuchen tagträumte er davon, bei Onkel Lloyd zu wohnen. Wenn seine Eltern ihn zu der jeweils angesagten Ausstellung oder dem jugendfreien Broadway-Hit in die City schleppten, schauten sie normalerweise auch kurz bei Onkel Lloyd vorbei. Diese Nachmittage waren in Fotos verewigt, die von Fremden gemacht wurden. Seine Eltern waren Verweigerer in einem Zeitalter digitaler Vielfalt und bestellten den Boden in einsamen Enklaven des Widerstands: eine Kaffeemaschine, die keine Uhrzeit angab, Wörterbücher, die aus Papier bestanden, eine Kamera, die nur Bilder machte. Die Familienkamera sendete nicht ihre Koordinaten an erdumkreisende Satelliten. Man konnte damit keine Flüge zu Badeorten mit Zugang zu Regenwäldern via kostenlosem Shuttleservice buchen. Es bestand keinerlei Aussicht auf Video, weder hochauflösendes noch sonstiges. Der Apparat war dermaßen veraltet, dass jede schwankende Gestalt, die sein Vater aus der Schar der Passanten zwangsverpflichtete, ihn problemlos bedienen konnte, und sei die kuhäugige Leere in ihrem Touristengesicht oder das hausgemachte Elend, das ihr die Wirbelsäule krümmte, noch so tief. Seine Familie posierte auf der Museumstreppe oder, das grelle Poster links über den Schultern, unter dem strahlenden Schriftdisplay, stets die gleiche Komposition. Der Junge stand in der Mitte, die Hände seiner Eltern reglos auf den Schultern, Jahr für Jahr. Er lächelte nicht auf jedem Bild, nur auf den wenigen, die für das Fotoalbum ausgewählt wurden. Dann ging es mit dem Taxi zu seinem Onkel und mit dem Fahrstuhl nach oben, sobald der Portier sie überprüft hatte. Onkel Lloyd hing lässig im Türrahmen und bat sie mit einem dekadenten »Willkommen in meiner bescheidenen Hütte« herein.
    Während seine Eltern Onkel Lloyds neuester Freundin vorgestellt wurden, war der Junge schon am anderen Ende der Diele, brachte begeistert die cappuccinofarbene Couchgarnitur zum Quietschen und staunte über die neuesten Abwandlungen in der Unterhaltungselektronik. Als erstes suchte er nach Neuzugängen. Mal waren es die kabellosen Lautsprecher, die wie spindeldürre Gespenster in den Ecken spukten, mal kniete er vor einer flachen, blinkenden Box, die als irgendeine Art von Multimedia-Gehirnstamm diente. Er strich mit dem Finger über ihre dunklen Oberflächen, hauchte sie dann an und wischte die Spuren mit seinem Polohemd weg. Die Fernseher waren die neuesten und größten, sie levitierten im Raum und pulsierten von einer Unzahl extravaganter, im ungeöffneten Benutzerhandbuch abgebildeter Funktionen. Sein Onkel kriegte jeden Sender und unterhielt unter der Ottomane ein Mausoleum von Fernbedienungen. Der Junge sah fern, drückte sich an den Glaswänden herum und schaute neunzehn Stockwerke hoch durch rauchiges Anti- UV -Glas auf die Stadt hinaus.
    Die Wiedersehenstreffen waren toll und immer gleich, eine frühe Unterweisung in der rekursiven Natur menschlicher Erfahrungen. »Was schaust du dir an?«, fragte die jeweilige Freundin, während sie mit edlem Selterswasser und Chips hereingetappt kam, und er sagte: »Die Gebäude«, und gruselte sich ein wenig vor dem Sog, den die Skyline auf ihn ausübte. Er war ein Stäubchen, das im Räderwerk einer riesigen Uhr kreiste. Millionen von Menschen kümmerten sich um diese großartige Apparatur, sie lebten, schwitzten und ackerten darin, dienten dem Mechanismus der Metropole und machten ihn größer und besser, Stockwerk um prächtiges Stockwerk und Idee um unwahrscheinliche Idee. Wie klein er war, so zwischen den Zähnen herumpurzelnd. Aber die jeweilige Freundin sprach von den Horrorfilmen im Fernsehen, in denen die Frauen durch die Wälder rannten, sich mucksmäuschenstill im Schrank zusammenkauerten oder vergeblich versuchten, den Pick-up anzuhalten, von dem sie sich Rettung vor dem Hillbilly-Schlitzer versprachen. Wer beim Abspann noch stand, schaffte es kraft eines obskuren Aspekts seiner Persönlichkeit. »Ich kann diese Gruselgeschichten nicht leiden«, sagte die jeweilige Freundin, bevor sie zu den Erwachsenen zurückkehrte, und bemühte sich dabei um eine Ausstrahlung von Tante, als wäre sie die erste, die in dieses Amt befördert wurde. Was das Verfallsdatum anging, war der jüngere Bruder seines Vaters pingelig.
    Er sah sich gern Horrorfilme und die unter ihm brodelnde Stadt an. Er fixierte sich auf sonderbare Details.
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