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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Autoren: Andreas Wirsching
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Gefährdungen suchten nicht nur die nationalen Regierungen im Rahmen ihrer sozialpolitischen Agenda zu begegnen. Auch die Europäische Kommission fahndete nach Wegen, wie sich die als unausweichlich erachtete Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und Arbeitnehmer durch Elemente sozialer Sicherheit ergänzen ließ. Das Schlagwort hierfür lautete
Flexicurity,
ein Kunstbegriff, der Flexibilität und Sicherheit (security) verknüpfte, in den Niederlanden entstand und seit 2005 zu einem integralen Bestandteil der europäischen Lissabon-Strategie avancierte. Zurückgehend auf den niederländischen Soziologen Ton Wilthagen,[ 66 ] suchte das Konzept der
Flexicurity
nach Alternativen zur bloßen Deregulierung und Absenkung der sozialen Standards. Es warb für eine nachhaltige Balance zwischen erforderlicher Flexibilisierung und Erwerbs- und Einkommenssicherheit und zielte darauf, das europäische Sozialmodell in Zeiten der Globalisierung zu erneuern. Konkret hieß dies: Dem unabweisbaren Gebot des häufigen Arbeitsplatzwechsels und dem Imperativ des «lebenslangen Lernens» sollten ausreichende soziale Sicherungsmaßnahmen zur Seite treten.
    Einen ersten praktischen Referenzpunkt setzte das niederländische «Flexibilitäts- und Sicherheitsgesetz», das 1999 in Kraft trat. Unter anderem ermöglichte es eine flexiblere Handhabung von bis dahin unbefristeten Teilzeitstellen. Zugleich führte es einen Mindestlohn ein und integrierte Teilzeitstellen ebenso wie Leiharbeit in das Tarifvertragssystem. Für die Europäische Kommission wurde die niederländische Praxis in dem Maße zu einem Vorbild, in dem die dortige Arbeitslosigkeit nach der Jahrtausendwende deutlich zurückging.[ 67 ] Dementsprechend forderten die «Integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung» im Jahre 2005, «Flexibilität und Beschäftigungssicherheit in ein ausgewogenes Verhältnis [zu] bringen und die Segmentierung der Arbeitsmärkte [zu] verringern».[ 68 ] Ein Jahr später fand der Begriff der
Flexicurity
regelmäßigen Eingang in die Dokumente der EU. Welche spezifischen Maßnahmen sich mit dem Konzept verbanden und was es konkret bewirken konnte, blieb freilich unsicher. Neben der holländischen Gesetzgebung galten als erfolgreiche Beispiele die Verbesserung des Abfindungswesens bei betriebsbedingten Kündigungen in Österreich oder auch die konstruktive Verbindung von aktiver Arbeitsmarktpolitik und Fortbildungsmaßnahmen in Dänemark. Insgesamt aber blieb fraglich, ob letztlich nicht die erzwungene und legislativ forcierte Flexibilität über die Bemühungen zur Hebung der sozialen Sicherheit triumphierte.
    Denn unbestritten ergab sich aus der Strategie der Flexibilisierung eine neue Verwundbarkeit der Arbeitnehmer auf dem Markt. Zwar lautete eines der ins Feld geführten Standardargumente, die Arbeitsmarktflexibilisierung erhöhe die Eintrittschancen der schwer vermittelbaren Arbeitssuchenden. Selbst kurzzeitige Berufserfahrung im Rahmen von Zeitarbeit oder befristeten Verträgen verbesserte nach diesem Kalkül das Qualifikationsprofil und die Aussichten auf einen längerfristigen «regulären» Arbeitsplatz. In der Praxis mochte es hierfür Beispiele geben. Meist aber drohte dieser Mechanismus in eben dem Maße zur Falle zu werden, in dem es die Arbeitsbiographie der Betroffenen unterminierte oder gar nicht erst zur Entfaltung kommen ließ. Die langfristigen Arbeitsmarktchancen reduzierten sich dann dauerhaft, und die Betroffenen blieben auf einen instabilen Niedriglohnsektor mit hohem Arbeitsplatzrisiko verwiesen.[ 69 ]
    Spezifische Alters- und Personengruppen und Beschäftigte in bestimmten Branchen unterlagen diesem kumulierten Arbeitsmarktrisiko in besonderer Weise. Dies galt zunächst für die jungen Arbeitnehmer unter dreißig Jahren. Praktisch alle westeuropäischen Staaten erweiterten seit den 1980er Jahren die Möglichkeiten, Personal zeitlich befristet oder projektbezogen einzustellen. Naturgemäß traf dies in erster Linie die jungen, neu auf den Arbeitsmarkt drängenden Arbeitskräfte. So waren im Jahre 2005 EU-weit ein knappes Drittel der unter Dreißigjährigen mit einem befristeten Vertrag ausgestattet, dagegen weniger als zehn Prozent der älteren Arbeitnehmer. Etwas weiter ging die Schere in Deutschland auseinander: Hier waren deutlich über 40 Prozent der jungen Arbeitnehmer lediglich befristet beschäftigt gegenüber rund 6 Prozent der älteren. Nahm Deutschland hiermit innerhalb der EU 15 einen Spitzenplatz ein, so
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