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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Autoren: Andreas Wirsching
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sich als «Gewebe» über das Denken der Akteure und prägte ihr politisches Handeln – unabhängig davon, welche konkreten Ziele sie verfolgten.[ 61 ]
    Auch wenn sich zwischen 1995 und 2009 in ganz Europa der Bildungssektor deutlich erweiterte und das durchschnittliche Bildungsabschlußniveau anstieg,[ 62 ] blieb dem kritischen Beobachter doch kaum verborgen, wie sich die Sprache der Globalisierung, Bildung und Flexibilisierung zur Ideologie entwickelte. Sie ist anders zu bewerten als jene Maßnahmen, die den Binnenmarkt vorantrieben. Zu diesem Zweck war, wie wir gesehen haben, ein gewisses Maß an regulierenden Eingriffen erforderlich. Die Lissabon-Strategie indes wies offensichtliche sozialtechnologische Tendenzen auf. Und um zu erkennen, daß eine führende Produktivkraft wie «Wissen» rasch vom Kapital angesogen und seinem Verwertungsinteresse unterworfen wird, brauchte man kein Marxist zu sein. So blieb auch der Kreislauf der informationstechnologisch gestützten «Wissensgesellschaft» letztlich ökonomisch diktiert: Technologie und Wissen erhöhten die Produktivität; Produktivität gewährleistete Wachstum, und Wachstum garantierte erhöhte Kapitalquoten. Der Terminus der Wissensgesellschaft decouvriert sich somit als ein geradezu klassisches Phänomen des Überbaus. Demgegenüber führte die rhetorisch häufig vorgenommene Trennung zwischen einer angeblich traditionellen oder gar überholten Produktivkraft «Kapital»und einer jungen, innovativen Produktivkraft «Wissen» in die Irre. Auch die weitverbreitete Auffassung, die Produktivkraft Arbeit werde von der neuen Produktivkraft Wissen abgelöst, traf den Kern nicht. Gebraucht wurde vielmehr höher qualifizierte Arbeit, die zwar in spezifischer Weise wissensbasiert war (was freilich nichts Neues war), aber doch immer noch Lohnarbeit blieb. Und wenn diese Arbeitskraft zugleich flexibel, hochmobil, leicht zu rekrutieren und ebenso leicht wieder zu entlassen war, so glich sie tatsächlich einer Art postindustrieller Reservearmee.
    Dies ließ sich auch dadurch nicht überdecken, daß die europäische Wachstums-, Bildungs- und Flexibilisierungsstrategie vordergründig eine Sprache verwendete, die auf das Individuum zielte: «Das Konzept des lebenslangen Lernens verlagert die Verantwortung für Bildung und Lernen auf das Individuum; es konzentriert sich auf die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten und Lernkapazität. Damit verbindet sich eine Verlagerung von traditionellen Bildungseinrichtungen hin zu unterschiedlichen Lernmöglichkeiten, die stärker prozeß- und ergebnisorientiert sind.»[ 63 ] Ob mit diesem Konzept allerdings nicht doch eher ein «stahlhartes Gehäuse» des globalen Kapitalismus als die Entfaltung des Individuums evoziert wurde, stand auf einem anderen Blatt. Tatsächlich tendierte die neoliberale Logik der europäischen «Wissensgesellschaft» dazu, den Menschen nach ihrem Bilde zu formen. Zwar begleiteten das Leitbild des «flexiblen Menschen»[ 64 ] stets schöne Melodien wie das Loblied auf die individuelle Kreativität und Entfaltung. Aber das blieb überwiegend Rhetorik. Was am Menschen vor allem interessierte, war seine Eigenschaft als ein sich verhaltendes System, das durch quasi-behavioristische Bildungsstrategien systemkonform beeinflußt werden konnte. Das proklamierte Ziel war der souverän auf dem Markt agierende
homo oeconomicus,
der die Gestaltung seiner eigenen Biographie aktiv in die Hand nahm und seine Chancen nutzte.
    Das Ergebnis war hingegen ein «negativer Individualismus», das heißt eine neue, massenhafte Verwundbarkeit auf dem Markt. Entgegen den eher optimistischen Perspektiven der Globalisierungsstrategen war eine solche Verwundbarkeit von nicht wenigen Sozialwissenschaftlern bereits um 1990 prognostiziert worden. Die Entstandardisierung der Lebensläufe in einem postfordistischen Zeitalter würde, so die im Kern übereinstimmenden Thesen von Ulrich Beck, André Gorz, Robert Castel, nicht dauerhaft durch verstärkte Investitionen in das «Humankapital» kompensiert werden können. Vielmehr sei angesichts der Flexibilisierung und Fragmentierung des Arbeitsmarktes durch die Häufung ungeregelter, rechtlich wenig geschützter Arbeitsplätze langfristig mit abnehmender Jobsicherheit undunsicheren Verdienstmöglichkeiten zu rechnen.[ 65 ] Während die EU ebenso wie die OECD und die UNO auf «more and better jobs» hofften, prognostizierten die Skeptiker einen Anstieg der «bad jobs».
    Entsprechenden
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