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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Autoren: Andreas Wirsching
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spielte die Befristung der Arbeitsverträge in den ostmitteleuropäischen Beitrittsländern von Beginn an eine noch größere Rolle. In Polen etwa befanden sich im Jahre 2005 fast die Hälfte aller unter Dreißigjährigen Erwerbstätigen in befristeten Arbeitsverhältnissen, in Estland waren es sogar rund 55 Prozent. In beiden Ländern betrug die Quote der älteren, befristet eingestellten Arbeitnehmer ebenfalls beachtliche 18 bzw. 25 Prozent.[ 70 ] Weitere Risikogruppen rekrutierten sich aus Zuwanderern, Minoritäten – in Ost- und Südosteuropa waren dies vor allem die Roma – und aus der Gruppe der älteren Arbeitnehmer über fünfzig Jahre. Besonders ungünstige Perspektiven hatten schließlich die wenig qualifizierten Erwerbstätigen. Frauen unterlagen in aller Regel ebenfalls einem höheren Arbeitsmarktrisiko als Männer.
    Die damit beschriebenen Tendenzen betrafen alle europäischen Länder, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen. Unter denwesteuropäischen Ländern war es Großbritannien, das die größten Anstrengungen unternahm, seinen Arbeitsmarkt zu flexibilisieren und sich für die globale Wirtschaft zu wappnen. Seit dem Ende der 1990er Jahre wurde es dafür mit vergleichsweise hohen Wachstumsraten und niedriger Arbeitslosigkeit belohnt. Aber die Briten zahlten einen hohen Preis: Immer weiter öffnete sich die Schere zwischen den hohem Einkommen, die von der Globalisierung profitierten, und den prekären Arbeitsbiographien. Die gesellschaftliche Polarisierung schritt voran, und neben Portugal war Großbritannien im Jahre 2004 das einzige westeuropäische Land, das als Niedriglohnland bezeichnet werden mußte. Gemessen an der gängigen Definition – Löhne, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohns betragen, gelten als Niedriglohn – war ein knappes Drittel der britischen Erwerbstätigen (32,2 Prozent) in diesem Segment angesiedelt.[ 71 ] Je weiter der Arbeitsplatz vom traditionellen Standard einer unbefristeten Vollbeschäftigung abwich, um so wahrscheinlicher wurde es, daß er die Charakteristika eines
bad job
entwickelte. Der Arbeitnehmer hatte sich mit einem Mangel an sozialer Sicherheit, schlechter Bezahlung und der Absenz von Aufstiegs- und Weiterbildungschancen auseinanderzusetzen. Konkret betraf dies in erster Linie wenig qualifizierte Arbeitnehmer, Frauen und Einwanderer. Besonders waren Bereiche betroffen wie Nahrungsmittelindustrie und Pflegedienste.[ 72 ] Hinzu trat eine weitere Entwicklung, die für die deregulierten Arbeitsmärkte in der globalen Wirtschaft typisch war: Zwar sank die durchschnittliche Wochenarbeitszeit aller Erwerbstätigen; aber in bestimmten, gerade auch hochqualifizierten Bereichen blieb sie hoch, zum Teil bei deutlich über 40 Stunden in der Woche und bei steigender Arbeitsintensität.[ 73 ] Dies trug dazu bei, daß die subjektive Jobzufriedenheit der Briten im Verlauf der 1990er Jahre nachließ, zumal Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor häufig zwei Stellen annahmen, um über die Runden zu kommen.[ 74 ]
    Vergleichbare Entwicklungen gab es auch dort, wo der Arbeitsmarkt insgesamt noch stärker reguliert blieb als in Großbritannien. In Frankreich und Deutschland etwa hielt sich das «fordistische» Modell länger als in Großbritannien; das heißt, ein erheblicher Teil der Arbeitnehmer fuhr fort, von den Vorteilen einer durch Kündigungsschutz und Kollektivvertrag langfristig protektionierten Vollerwerbsstelle zu profitieren. Zwar befand sich dieses «restriktive Paradigma eines lebenslangen Arbeitsplatzes», wie es die Kok-Kommission bezeichnete, auch in Frankreich und Deutschland auf dem Rückzug und offenbarte klare Anzeichen der fortschreitenden Erosion. Überdies erzwangen auch in diesen Ländern die Regierungen zum Teil gegen heftigen politisch-gesellschaftlichen Widerstand beträchtliche Liberalisierungsmaßnahmen. 2010 meinte der deutsche Ökonom BertRürup sogar, kein Land sei in den vergangenen zehn Jahren «so stark wie Deutschland – im positiven Sinne – umgekrempelt worden».[ 75 ] In erster Linie aber wirkten sie sich auf die Bedingungen der neu in den Arbeitsmarkt einströmenden Arbeitnehmergruppen aus, also vor allem junge Erwerbstätige, Zuwanderer und Frauen. Auf diese
Newcomer,
aber auch auf Arbeitslose, die den Wiedereintritt schafften, wurde das Arbeitsplatzrisiko großenteils abgewälzt. Dementsprechend stieg die Zahl der Erwerbstätigen, die auf unfreiwillig befristete oder geringfügige Beschäftigungsverhältnisse,
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