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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Autoren: Andreas Wirsching
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schlecht bezahlte und sonstige
bad jobs
verwiesen blieben. In Frankreich wie in Deutschland verstärkte sich daher die Tendenz zu einem gespaltenen, «dualen» Arbeitsmarkt, der die Polarisierung zwischen
ins
und
outs
begünstigte.[ 76 ]

    Quelle: Arbeitsagentur Arbeitsmarktberichte 2001–2010
    Vergleichbare Entwicklungen ließen sich auch für die anderen westeuropäischen (EU 15) Länder feststellen. Je nach Regulierungsdichte, wohlfahrtsstaatlicher Tradition und Wirtschaftsdynamik variierte das Spektrum der Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt; aber keine der europäischen Gesellschaften konnte den genannten Entwicklungen entgehen. Technologischer Wandel, die Folgen der Globalisierung und die in Europa vorherrschende neoliberale Modernisierungspolitik erzeugten neue Armutsrisiken unter jenen Schichten, die dem Tempo der ökonomischen Beschleunigung nicht zu folgen vermochten. Hier entstand eine neue Unterschicht, ein «Prekariat», unterbeschäftigt und ohne Aufstiegsperspektive, dessen Angehörige zu Dauerempfängern der sozialen Transfers, ja zu «Versorgungsklassen» zu werden drohten.
    Noch schwerer, ja brutaler lastete der Anpassungsdruck freilich auf den ost(mittel)europäischen Transformationsländern. Die kommunistischen Regime hatten ja gewissermaßen ihre Form des «Fordismus» entwickelt: mit lebenslanger Arbeitsplatzsicherheit und sozialer Fürsorge bei allerdings minderer Produktivität und niedrigem Lebensstandard. Nach 1989 gab es hier nun statt der Überhänge eines fordistischen Zeitalters, das in Westeuropa noch weite Teile der älteren Arbeiterschaft schützte, die Ruinen des alten Systems und mit ihm eine weitere spezifische Risikogruppe. Sie entstand vor allem dort, wo die Regierungen entsprechend den Maßstäben der wettbewerbsorientierten globalen Wirtschaft forciert auf Liberalisierung und Privatisierung setzten. Denn in kaum einem Fall ließ sich die Privatisierung der großen Kombinate ohne Entlassungen durchführen. Zahllose Arbeiter und Angestellte der früheren Staatsbetriebe sahen sich daher mit plötzlicher Arbeitslosigkeit konfrontiert.
    Weil die osteuropäischen Staaten Anschluß an den europäischen Zug suchten, übernahmen sie auch die arbeitsmarktpolitischen Schlüsselthemen der Lissabon-Strategie. Bis zum Zeitpunkt des EU-Beitritts im Jahre 2004 vermochten die osteuropäischen Ökonomien daher besonders flexibel auf die gewandelten weltwirtschaftlichen Verhältnisse zu reagieren beziehungsweise sich ihnen anzupassen. So begannen sich gegen Ende der 1990er Jahre die zunächst unvermeidlich hohen Arbeitslosenquoten der postkommunistischen Staaten dem Standard der EU-15-Länder anzunähern. Während die Tschechische Republik sogar durchweg geringere Arbeitslosenziffern aufwies als der EU-Durchschnitt, lag er in Polen lange Zeit deutlich höher. Arbeitslosigkeit war hier vor allem auch ein ländliches Phänomen und spiegelte die Schwierigkeiten der vormals staatlichen Agrarbetriebe wider. Beiden Ländern wie auch Ungarn gelang es jedoch gerade aufgrund ihrer flexiblen Arbeitsmarktpolitik, die Erwerbslosenzahlen deutlich zu drücken. Gemessen an der reinen Statistik war daher im Jahre 2008 eine klare Konvergenz der europäischen Staaten zu erkennen.
    Bezahlt wurde dies freilich durch die Häufung all jener Charakteristika, die auf den westeuropäischen Arbeitsmärkten zur Polarisierung führten und
«bad jobs»
hervorbrachten. Die ostmitteleuropäischen Transformationsstaaten zeichneten sich durch weitestgehende, geradezu «exzessive» Flexibilität der Arbeitsverhältnisse und eine zugespitzte «Permissivität» der Arbeitsbeziehungen aus.[ 77 ] Befristete Verträge, Zeitarbeit, prekäre Selbständigkeit, aber auch deutlich längere Wochenarbeitszeiten als im Westen kennzeichneten in noch höherem Maße die ostmitteleuropäischen Arbeitsmärkte. Wenn etwa die Selbständigen Ende der 1990er Jahre die am schnellsten wachsende Beschäftigungskategorie waren, dann konntedas in «neoliberaler» Interpretation als statistisch verifizierter Erfolg betrachtet werden. In der Praxis aber bedeutete das, «was in der Statistik aussieht wie eine Eruption von Unternehmertum», häufig bloß die Entlassung von Arbeitnehmern in die Scheinselbständigkeit.[ 78 ]

    Quelle: EuroStat
    Hinzu traten mangelhafte Gesundheitsbedingungen am Arbeitsplatz und die verstärkte Anforderung von Schichtarbeit. Auch in den Beitrittsländern waren junge Arbeitnehmer, Frauen und ethnische Minderheiten, vor allem die
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