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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Autoren: Andreas Wirsching
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in der Familie angesiedelt war und dort zur unbezahlten weiblichen Arbeit im Haushalt gehörte, wurde nun ein in der Regel schlecht bezahlter Job. Auch die Teilzeitarbeit und ihr Anstieg waren in hohem Grad geschlechtsspezifisch. 2004 pendelte der Anteil der Frauen in solchen Arbeitsverhältnissen zwischen 70 Prozent in Schweden und fast 90 Prozent in Österreich und Luxemburg.[ 84 ] Halbtagsjobswaren eindeutig dort konzentriert, wo die geschlechtsspezifische Prägung der Arbeitsplätze vorherrschte. Feministische Autoren sprachen denn auch von einer Art Reproduktion der Geschlechterrollen am Arbeitsplatz oder sogar davon, dass häusliche Rollen am Arbeitsplatz gleichsam «nachgespielt» wurden.[ 85 ]
    Kein Zweifel besteht jedenfalls daran, daß vor allem weibliche Arbeitskraft genutzt wurde, um den fundamentalen Strukturwandel in den westlichen Ökonomien seit 1970 zu bewältigen. Frauen brachten neue und dringend benötigte Flexibilität in den Arbeitsmarkt. Zugespitzt formuliert, bildete die expandierende weibliche Arbeitskraft im dynamisch wachsenden Dienstleistungssektor eine Art flexibler, post-industrieller «Reservearmee».
    Es läßt sich daher durchaus argumentieren, daß der Strukturwandel neue Dienstleistungsklassen hervorgebracht hat, bestehend aus lohnabhängigen, in den Servicesektoren tätigen Männern und Frauen. Zwar trennte eine neue, aber gleichsam traditionelle «Kragenlinie» die gut ausgebildeten
white collar
-Arbeitnehmer in den großen Konzernen und innovativen Unternehmen von den handarbeitenden Schichten in den
bad jobs.
Gemeinsam aber war ihnen, daß ihre Existenz in dem Maße prekär zu werden drohte, in dem ihre Kapitalabhängigkeit stieg.
    Noch stand freilich keine politisch-soziale Sprache zur Verfügung, um dem transnational aktiven Kapital eine international wirksame, «klassen»-basierte Position entgegenzusetzen. Auch die Proteste gegen die internationalen Organisationen wie etwa gegen die WTO in Seattle im Jahre 1999 oder die alljährlich wiederkehrenden, häufig gewaltsamen Aktionen der militanten Globalisierungsgegner konnten dies nicht ersetzen und verrieten im Grunde nur ihre fortbestehende Hilflosigkeit.[ 86 ]
Euphorie und Ernüchterung: Aufstieg und Fall der New Economy
    Ungebremster Optimismus, ja die reine Euphorie, herrschte dagegen dort, wo die neuen Technologien unmittelbare Wertschöpfungsgewinne versprachen. Ausgehend von den USA, entstanden auch in Europa seit Mitte der 1990er Jahre immer mehr junge Unternehmen, die Dienstleistungen auf der Basis Internet-gestützter Kommunikation anboten. Zumindest vordergründig versprach dies eine radikal neue Form des Wirtschaftens. Die
New Economy,
wie man sie bald nannte, suggerierte die Chance auf gänzlich neue Produktivität. EDV-basiert und global agierend, lautete ihr Credo, sich von traditionellen Formen der Warenproduktion abzukoppeln und eben dadurch neuen Reichtum zu schaffen. Ganz im Einklang mit den Versprechungen der «Wissensgesellschaft» lauteten die Prioritätender
New Economy:
Kommunikation und Information. Information sollte weltweit zugänglich gemacht und zugleich in ihrer Effizienz gesteigert werden.
    Ein globaler Wettbewerb setzte ein um die kreativsten Köpfe und um die besten Ideen, die neuen Inhalte unter die Leute zu bringen. Die hauptsächlichen Gewinnaussichten ergaben sich aus der beständig steigenden Zahl der Internetnutzer. Jenen Seiten, die hohe und höchste Besucherzahlen vorweisen konnten, winkten durch künftige Bezahldienste, aber vor allem aufgrund der Einnahmen durch Werbung schier unerschöpfliche Gewinne. In enger Wechselwirkung mit den expandierenden internationalen Finanzmärkten entstanden binnen kurzem in der Internet- und Medienbranche ein Gründungsboom und eine Art Goldgräberstimmung, wie man sie am Ende des 20. Jahrhunderts kaum mehr für möglich gehalten hätte.
    Der anfänglich überwältigende Erfolg der
New Economy
verschärfte allerdings die gesellschaftliche Polarisierung. Denn er prämierte nur eine kleine Minderheit meist junger, technisch kompetenter und unternehmerisch denkender Akteure. Nachhaltig äußerte sich dies nicht nur im Bereich der explodierenden Einkommen. Auch die Arbeitsformen schienen sich unter dem Eindruck der
New Economy
nachhaltig zu verändern. Während in den
bad jobs
der gewöhnlichen Dienstleistungsklassen zunehmend prekäre Arbeitsbedingungen herrschten, verströmten die Angestellten der
New Economy
ein neues Lebensgefühl. Hier war die Rede
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