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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Autoren: Andreas Wirsching
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vom Abbau der Hierarchien und von den Früchten der Teamarbeit. Chefs und Mitarbeiter arbeiteten gemeinsam in großen Büros; es herrschte ein quasi familiäres Arbeitsklima ohne Krawattenzwang. Mitarbeiter galten als Partner, nicht als untergebene Arbeitnehmer.
    Auf der Kehrseite dieser neuen Flexibilität verschwammen freilich die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. In dem Maße, in dem Arbeit zugleich zum Lebenssinn wurde, fielen traditionelle Regulierungen wie die auf 40 oder gar auf 35 Stunden beschränkte Wochenarbeitszeit weg. Der die
New Economy
verkörpernde
Yettie –
young, entrepreneurial, techbased, twentysomething – befand sich im Grunde immer in der Arbeit, sei es zu Hause oder im Betrieb. Dementsprechend galt er als bindungslos, partnerlos und kinderlos.
    In der «heißen Phase» der
New Economy,
zwischen 1997 und 2000, mangelte es nicht an märchenhaften Blitzkarrieren; mehr als einmal mündete der Traum vom eigenen
Startup
direkt im neuen Reichtum. Möglich wurde dies durch die enge Verflechtung der
New Economy
mit dem gleichzeitig boomenden Aktienmarkt. Neben die Euphorie der neuen Technologien selbst trat das euphorische Verlangen, junge Unternehmen der
NewEconomy
an die Börse zu bringen. Investoren, die an den gewinnträchtigsten Ideen im Bereich der Neuen Technologien und Medien teilhaben wollten, gab es anfangs genug. Hier entstand eine geradezu fiebrige Atmosphäre. Jugendlicher Enthusiasmus mischte sich mit global geweiteten Perspektiven, technisch angetriebener Fortschrittsoptimismus mit der primitiven Gier nach Erfolg und Reichtum. Vorübergehend prämierte diese kommunikative Beschleunigung des Wirtschaftslebens das performative Element und die Fähigkeit der Akteure zur Selbstinszenierung. Freilich verschoben sich dabei allzu oft die Sphären des Realen und die des Virtuellen; und zu wenig wurde beachtet, daß doch primär mit bloßen Erwartungen gehandelt wurde.
    Die Folge war eine gigantische Spekulationsblase, tatsächlich eine der größten in der Börsengeschichte. Wer etwa im Jahre 1997 beim Börsengang des deutschen Medienrechtehändlers EM-TV mit 6000 D-Mark einstieg, wurde zwei Jahre später – nach einer Kurssteigerung von 16.600 Prozent – Millionär. Zumindest war er dies, wenn er seine Anteile rechtzeitig verkaufte. Denn ebenso rasch, wie die Kurse in die Höhe geschossen waren, fielen sie ins Bodenlose. Im März 2000 erreichten die Indizes des Neuen Marktes ihren Höchststand – danach ging es rasend bergab, und die Blütenträume eines gleichsam «ewigen», Internet-getriebenen Wachstums zerstoben. Viele der neu gegründeten Firmen gingen Bankrott oder wurden zum Schleuderpreis verkauft. Der größten Erfolgsgeschichte an der Börse folgte nun eine gigantische Kapitalvernichtung auf dem Fuße.
    Mit extremer Geschwindigkeit veränderte sich in der Krise auch die gesellschaftlich-kulturelle Wahrnehmung der
New Economy.
Hatten deren Erfolge zunächst auch ernsthafte Kommentatoren dazu bewogen, traditionelle Mentalitäten zu hinterfragen, rückte nun ihr genuin virtueller Charakter ins Fadenkreuz der Kritik. Plötzlich galten die Projekte vieler
Startups
als wenig innovativ und ihre Gewinnberechnungen als reine Hypothesen, die auf unrealistischen Wachstumsschätzungen des Internet-Handels basierten. Immer lauter wurden auch die Stimmen, die den Banken zumindest eine Mitschuld am sich abzeichnenden Desaster gaben. Gestützt auf rein mediale Werbekampagnen waren allzu viele zweifelhafte Firmen an die Börse gebracht worden.
    Die handfesten Skandale, die der Niedergang der New Economy mit sich brachte, trieben solche Stimmungen um so mehr an. In Deutschland waren dies neben dem Absturz von EM-TV vor allem die Machenschaften der Firma Comroad in Baden-Württemberg. Als ans Tageslicht kam, daß deren Umsätze größtenteils frei erfunden waren, verflüchtigten sich endgültig die Grenzen zwischen Realität und Virtualität. Der Chef des Unternehmens –mit dem sich der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel gelegentlich gerne hatte fotografieren lassen – hatte regelmäßig Aufträge von asiatischen Kunden gemeldet, die es gar nicht gab. In seinem Strafverfahren attestierte ihm dann allerdings selbst der Staatsanwalt mildernde Umstände: «Zu einem Clown gehört auch ein Zirkus, und dieser Zirkus nennt sich Neuer Markt.»[ 87 ]
    Am Ende erhob sich die Frage, ob die
New Economy
überhaupt sinnvoll von der traditionellen Wirtschaft und ihren zyklischen
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