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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Autoren: Andreas Wirsching
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nun «konservativ» dominiert waren oder «New Labour» vertraten – wurden diese Konzeption und der von ihr beherrschte Diskurs übermächtig. Sie erfaßten auch andere internationale Organisationen wie die OECD, die in ihren regelmäßigen Analysen und Surveys diegleiche Sprache verwendete.[ 57 ] Erstaunlich ist es allerdings, daß auch eine Institution wie die International Labour Organization (ILO) in Genf vor den arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen der Globalisierung kapitulierte bzw. ihnen mit denselben Konzepten zu begegnen suchte. Um Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung zu erreichen, verabschiedete die Jahreskonferenz der ILO im Jahre 2000 ein Konzept mit dem schönen Namen
travail décent (decent work
bzw. «menschenwürdige Arbeit»). Dessen Aktionsrahmen bezog sich einmal mehr auf die Bereiche Bildung und Ausbildung. «Bildung, Ausbildung und Wertschöpfung der menschlichen Ressourcen tragen entscheidend zur Förderung der privaten wie unternehmerischen Interessen sowie allgemein der Wirtschaft und Gesellschaft bei. Indem sie aus jedem einzelnen eine beschäftigungsfähige Person und einen gemeinschaftsbewußten Bürger machen, tragen Ausbildung und Wertschöpfung der Humanressourcen zur ökonomischen Entwicklung bei. Sie fördern die Vollbeschäftigung und die soziale Integration.»[ 58 ]
    Bis zum Jahre 2008 verbreitete sich diese Sprache innerhalb der ILO über alle Berufsgruppen hinweg. In den Verhandlungen der Jahreskonferenzen spielte es nun keine Rolle mehr, ob sich der slowenische Arbeitsminister, ein ungarischer Gewerkschafter, ein parlamentarischer Staatssekretär aus Deutschland oder eine polnische Angestellte zu Wort meldeten. Sie alle sprachen von Wachstum und Globalisierung, vom technischen Fortschritt und lebenslangem Lernen.[ 59 ] Vom Diskurs der Globalisierungsexperten der OECD und der Europäischen Union unterschied sich dies nicht mehr. Auch die ILO rief nun das Ziel aus, die beruflichen Fähigkeiten der Arbeitenden zu verbessern. Schulische und berufliche Ausbildung sowie die lebenslange Weiterbildung konstituierten aus dieser Sicht die «essentiellen Pfeiler» für die «Beschäftigungsfähigkeit» jedes Arbeitnehmers. Der Weg solcher Bildung begann im Kindergarten und in der Grundschule, wo die Kinder ausreichend auf die Sekundarstufe sowie auf das Studium bzw. die Berufslehre vorbereitet wurden. Arbeitnehmern wie Arbeitgebern schließlich stand die Möglichkeit offen, sich permanent weiterzubilden, damit sie ihr ganzes Leben lang ihre Kompetenzen erneuern und neue hinzuerwerben konnten. Am Ende dieses durch Bildung etablierten «Tugendzirkels»
(cercle vertueux)
stand als projektiertes Ziel aller Anstrengungen einmal mehr die «Beschäftigungsfähigkeit»
(employabilité)
des Arbeitnehmers. Aufgrund seiner gewachsenen Produktivität würden sich die Unternehmen leichter tun, neue Technologien einzuführen und neue Märkte zu erschließen. Zwar war Produktivität kein «Selbstzweck», «aber ein Mittel, um das Leben der Arbeitenden, die Nachhaltigkeit der Unternehmen, den sozialen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Entwicklung zu verbessern».Arbeitnehmer würden von besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen profitieren; Unternehmen könnten in innovative Sektoren investieren und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken. Am Ende würden der Gesellschaft im Ganzen höherwertige Dienstleistungen zufließen, während sich zugleich die Armut reduzierte.[ 60 ]
    Dieser Gleichklang in der utopiegeladenen Sprache der großen Unternehmensberatungsagenturen wie der Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft, der internationalen Institutionen wie der politischen Akteure auf europäischer und nationaler Ebene war bemerkenswert. Er dokumentierte, in wie hohem Maße sich bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts ein transnationaler Diskurs etabliert hatte, der im Grunde keinen Widerspruch mehr duldete. Schlüsselbegriffe wie «Wissensgesellschaft», «Flexibilität» und
employability
übten eine zunehmend überwältigende soziale und transnationale Macht aus. In weniger als zwanzig Jahren entstand eine Art neoliberale «langue de bois», die zum Referenzrahmen beachtlicher bürokratischer Apparate wurde. Ihre Begriffe formten gleichsam eine diskursive «Oberfläche» (Foucault), die sich unabhängig von den Intentionen und Motiven konkreter Autoren gebildet hatte. Wer nach politischen Handlungsoptionen strebte, mußte sich auf ihr bewegen. Der Diskurs verselbständigte sich. Er legte
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