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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Autoren: Andreas Wirsching
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sein. Die westlichen Gesellschaften traten demzufolge in eine Phase ein, wie Karl-Heinz Briam, der Personalvorstand des Volkswagen-Konzerns, schon 1989 hervorhob, «in der sich die Industrie-Gesellschaft durch eine Lerngesellschaft ergänzt, da allmählich das Kapital als führende Produktivkraft durch das Wissen und die Kreativität der Menschen abgelöst wird».[ 51 ] Die Entwicklung des «Humankapitals» – oder freundlicher formuliert, die «Investitionen in die Menschen» – wurde daher zu einem entscheidenden Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftspolitischen Prioritäten in der EU: «Will Europa im Wettbewerb in der weltumspannenden wissensbasierten Gesellschaft bestehen, muss es mehr in sein wertvollstes Wirtschaftsgut investieren – seine Menschen. Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft hängen unmittelbar von gut ausgebildeten, qualifizierten und anpassungsfähigen Arbeitskräften ab, die mit Veränderungen umgehen können.»[ 52 ]
    Zum wichtigsten Ziel aller Bildungsanstrengungen deklarierte die europäische Modernisierungsstrategie die auf dem Markt einsetzbare Beschäftigungsfähigkeit, die
employability.
Auf sie galt es alle Bildungseinrichtungen auszurichten: von der Vorschule über die Primar- und Sekundarstufe bis zur Universitätsbildung, zu deren Zielbegriff im Rahmen des 1999 verabschiedeten «Bologna-Prozesses» ebenfalls die
employability
avancierte. Angestrebt war eine lückenlose und starke Kette des «lebenslangen Lernens», für die es «verlässliche, bedarfsgerechte Systeme» zu etablieren galt. Zusammen mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik sollte dies «die Menschen dabei unterstützen, schnellen Wandel, Perioden der Arbeitslosigkeit und den Übergang zu einer neuen Beschäftigung zu bewältigen».[ 53 ]
    Um ihre selbst gesteckten Ziele zu erreichen, setzte die Europäische Union einen gewaltigen Apparat in Gang, der die gewünschte Bildungsbewegungbefördern und beschleunigen, begleiten und bewerten sollte. Für eine Reihe von Indikatoren wurden Benchmarks formuliert. So sollten zum Beispiel bis 2010 mindestens 12,5 Prozent der EU-Bevölkerung im Alter von 25 bis 64 Jahren kontinuierlich an Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen. Nicht mehr als 10 Prozent der Schüler sollten frühzeitig die Schule verlassen; um mindestens 15 Prozent sollten die Studentenzahlen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen und den technischen Fächern steigen.[ 54 ] Die Mitgliedsstaaten wurden einem regelmäßigen Monitoring unterworfen, und ihre «performance» auf dem Weg zur Erreichung der Benchmarks evaluiert. Dies war der Ausgangspunkt für die zum Teil heftigen Diskussionen um international-europäisch vergleichende Leistungstests wie PISA, die nun je länger desto mehr zum Instrumentarium der Kommission wurden. Die Begründung hierfür lautete auch im Jahre 2008 so wie zehn Jahre zuvor: «Die Globalisierung, eine alternde Bevölkerung, Migration, eine veränderte Nachfrage nach Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt und schnelle technische Neuerungen haben die Bedeutung von Bildung und Ausbildung in der entstehenden Wissensgesellschaft erhöht. Für die Lissabon-Strategie und ihre Ziele sind folglich Schulen wichtiger denn je. Darüber hinaus erfordern sich wandelnde gesellschaftliche Werte und veränderte Erwartungen der Bürger eine ständige Entwicklung. Infolgedessen geraten Schulen unter wachsenden Leistungsdruck. Er schlägt sich in der steigenden Zahl von Leistungstests und in der Verbreitung von Information über Leistungsdifferenzen zwischen den Schulen nieder.»[ 55 ]
    Ziel dieser Bildungspolitik war es, die Menschen in Europa so flexibel zu machen, daß sie als qualifizierte und möglichst souveräne Akteure auf den sich wandelnden internationalen Arbeitsmärkten Fuß fassen konnten. Flexibilität in diesem Sinne hieß «Beweglichkeit, Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit.» Das «restriktive Paradigma eines lebenslangen Arbeitsplatzes» sei nun endgültig aufzugeben zugunsten eines «neuen Paradigmas mit dem Ziel, den Menschen die Fähigkeit zu vermitteln, auf dem Arbeitsmarkt zu bleiben und dort Fortschritte zu machen.» Der Wechsel von einer Beschäftigung zur nächsten müsse «möglichst problemlos» verlaufen.[ 56 ] Der seit den 1980er Jahren forcierten Flexibilisierung der Arbeitsmärkte hatte nun also die Flexibilität der Arbeitnehmer zu folgen.
    Nicht nur in der Europäischen Union und in den meisten nationalen Regierungen – ob sie
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