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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Autoren: Andreas Wirsching
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Vergangenheit. Die Vorstellung von einem ‹Arbeitsplatz auf Lebenszeit› ist der Überrest einer vergangenen Zeit.»[ 44 ]
    Insofern stellte sich die erforderliche Optimierung der «Mensch-Maschine-Schnittstellen im Produktionsprozeß»[ 45 ] vor allem als Bildungs- und somit als kulturelles Problem dar. Der technologische Fortschritt erzwang es aus dieser Sicht, den Menschen als kreativ Handelnden zu betrachten und in neue, flexiblere Arbeitsorganisationen zu integrieren. In diesem Sinne sprach etwa der polnische Spätmarxist Adam Schaff 1985 im Auftrag des Club of Rome die Sprache der Computeroptimisten und Unternehmensberater, wenn er prognostizierte: «Der universelle Mensch, der allseitig gebildete, also zur Berufsänderung und damit auch zur Änderung seiner Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung fähige Mensch, war bisher nur eine Utopie; heute beginnt er reale Gestalt anzunehmen. In einem gewissen Sinn wird er zur Notwendigkeit. Der Realisierung dieses Ideals werden sowohl die ständige Bildung wie die immer effizienteren Techniken der Informatik dienen.»[ 46 ]
    Die schöne Sprache der «Wissensgesellschaft», die vom «lebenslangen» Lernen handelte, von der Flexibilität und Mobilität, von der Notwendigkeit multipler Berufsbilder innerhalb eines Lebenslaufes, von der «Patchwork-Biographie» usf., war die direkte Folge dieses Menschenbildes. Bis zur Mitte der 1990er Jahre, als die IuK-Technologien mit ihren immer schnelleren Rechnerleistungen und der Einführung des
World Wide Web
in ein neues Zeitalter eintraten, hatte sich diese Sprache bereits in vollem Umfang entfaltet.
    Hinzu trat nun aber mit Macht die verschärfte internationale Konkurrenz, die im Zeichen von Liberalisierung und Globalisierung die Unternehmen mehr denn je unter Wettbewerbsdruck setzte. Daraus resultierte ein unabweisbarer Zwang zur betrieblichen Rationalisierung, sei es durch Entlassungen und
Outsourcing,
durch Verlagerung der Produktion oder informationstechnologische Investitionen. In ganz Europa bewirkte dies einen ebenso unmittelbaren Druck auf den Arbeitsmarkt wie auf die Arbeitsbedingungen und bedrohte die europäischen Gesellschaften zunehmend mit Tendenzen der Polarisierung und der sozialen Exklusion. Wer dem Druck nicht standhielt oder keine ausreichenden Qualifikationen mitbrachte, verlor den Anschluß. Von den meisten Analytikern und Akteuren wurden diese Probleme denn auch als die tiefe Schattenseite der Globalisierungidentifiziert. Sie bildete den Gegenstand einer internationalen Dauerdiskussion, die bis heute keineswegs abgeschlossen ist.
    Charakteristischerweise fand diese Debatte nicht zwischen Globalisierungsbefürwortern und -gegnern statt. Es ging nicht um eine rhetorische Schlacht zwischen «Techno-Eliten und Neo-Luddites», also fortschrittsfeindlichen Maschinenstürmern.[ 47 ] Vielmehr bestand zwischen wissenschaftlichen Experten und politischen Akteuren ein fundamentaler Konsens darüber, daß die Vektoren der Globalisierung unumkehrbar waren, auch wenn dabei zu wenig beachtet wurde, in wie hohem Maße sie politisch gewollten und konkret herbeigeführten Entscheidungen entsprangen. In jedem Fall aber mußten ihre sozialen Folgen zukunftsbezogen bewältigt werden; und dies galt gleichermaßen für die globalisierungsspezifischen Herausforderungen an den Arbeitsmarkt wie für die Gefährdungen der gesellschaftlichen Kohäsion. Der politische Globalisierungsdiskurs des frühen 21. Jahrhunderts war daher immer auch ein Zukunftsdiskurs. Zwar verstanden sich seine Teilnehmer, im Unterschied zur Zukunftsforschung der 1960er und 1970er Jahre, nicht als Prognostiker; aber sie suchten durch empirisch gestützte Planung die Zukunft zu gestalten. Gerade in Europa war es dabei allerdings nur ein kleiner Schritt bis zum bürokratisch durchgesetzten Technokratismus.
    Die Konzepte der wissenschaftlichen Experten und Unternehmensberater, der Nichtregierungsorganisationen wie OECD oder ILO, erst recht aber der politischen Akteure in der Europäischen Union und im nationalen Rahmen knüpften unmittelbar an die Diskurse der 1980er Jahre an. Sie handelten nicht mehr primär von staatlichen Strukturen, die es zum Schutz der Arbeit gegen zu hohe Kapitalabhängigkeit ins Werk zu setzen gelte. Im Gegenteil: Die Deregulierungs-, Privatisierungs- und Entstaatlichungsmaßnahmen der 1980er und 1990er Jahre verbanden sich je länger desto mehr mit dem politischen Eingeständnis, die Mächte der Globalisierung nicht bändigen
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