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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Autoren: Andreas Wirsching
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zu können. Wenn man aber faktisch weder der Technik noch den Marktgesetzen der globalen Wirtschaft ausweichen konnte, dann galt es letztendlich, den Menschen selbst anzupassen: seine Gewohnheiten, Fähigkeiten, Arbeitstechniken gleichsam zu modernisieren. Vor diesem Hintergrund entstand in der EU und unter der großen Mehrheit der politisch-ökonomischen Eliten eine «neoliberale» Sprache, die sich je länger desto mehr zu einer Art neuer Modernisierungsideologie verfestigte. Ihre Schlüsselbegriffe, die den Diskurs um die sozialen und arbeitsmarktspezifischen Folgen der Globalisierung international prägten, lauteten: «Wissensgesellschaft», «Bildung» und «Flexibilität».
    Die Wissensgesellschaft als sozioökonomisches Konzept war seit den1970er Jahren diskutiert und maßgeblich von Theoretikern wie Daniel Bell, Nico Stehr und anderen ins Gespräch gebracht worden. Produktivität war demzufolge in den westlichen Gesellschaften, die sich alle im Übergang zur postindustriellen Phase befanden, immer stärker an wissenschaftsbasierte Innovationen gekoppelt. Die Verbindung zwischen Wissenschaft und Technik wurde in dem Maße enger, in dem vor allem theoretisches, durch Forschung und Entwicklung generiertes Wissen Innovationen hervorbrachte. Schließlich wuchs, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, der Anteil jener Beschäftigungssektoren, die von der Wissensproduktion abhingen.[ 48 ]
    Geradezu enthusiastisch eigneten sich die politischen Akteure in Europa die Perspektive der «Wissensgesellschaft» an. Dies gilt im besonderen für die Europäische Union und ihre «Exekutive», die Brüsseler Kommission. Beraten von sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Theoretikern und wirtschaftspraktischen Befürwortern des Modells – wie etwa Manuel Castells, Anthony Giddens, der portugiesischen Ökonomin Maria João Rodrigues oder dem deutschen Politiker und Unternehmensberater Thomas Mirow – übernahm die Europäische Union die Sprache der Wissensgesellschaft in ihr Programm. «Von dem Übergang zu einer digitalen, wissensbasierten Wirtschaft, der von neuen Gütern und Dienstleistungen ausgelöst wird», so dekretierte die Lissabon-Strategie im Jahre 2000, «werden starke Impulse für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigungsmöglichkeiten ausgehen. […] Europas Bildungs- und Ausbildungssysteme müssen sich auf den Bedarf der Wissensgesellschaft und die Notwendigkeit von mehr und besserer Beschäftigung einstellen. […] Sie werden Lern- und Ausbildungsmöglichkeiten anbieten müssen, die auf bestimmte Zielgruppen in verschiedenen Lebensphasen zugeschnitten sind: junge Menschen, arbeitslose Erwachsene sowie Beschäftigte, bei denen die Gefahr besteht, daß ihre Qualifikation mit dem raschen Wandel nicht Schritt halten kann. Dieses neue Konzept sollte drei Hauptkomponenten aufweisen: Entwicklung lokaler Lernzentren, Förderung neuer Grundfertigkeiten, insbesondere im Bereich der Informationstechnologien, und größere Transparenz der Befähigungsnachweise.»[ 49 ]
    Vier Jahre später mußte eine Sachverständigen-Kommission unter Wim Kok konstatieren, daß die Nahziele der Lissabon-Strategie keineswegs erreicht worden waren. Als Konsequenz hieraus intensivierte sie jedoch die eingeschlagene Richtung noch einmal: Das Konzept der Wissensgesellschaft umfasse, so der Kommissionsbericht, «alle Aspekte der heutigen Wirtschaft, bei denen Wissen das Kernstück der Wertschöpfung darstellt […]. Bis zu 30 Prozent der Arbeitskräfte müssen in Zukunft wahrscheinlich unmittelbar bei der Erzeugung und Verbreitung von Wissen imverarbeitenden Gewerbe, bei Dienstleistungen, in der Kreditwirtschaft und in kreativen Unternehmen gleichermaßen tätig sein. Ein großer Anteil der übrigen Arbeitskräfte darf nicht weniger aufnahmebereit und wissensbasiert sein, wenn sie die neuen Trends nutzen wollen. Somit kann Europa auf seinem durchweg starken Engagement aufbauen, eine Wissensgesellschaft zu schaffen und damit potentiell weltweit die Führung zu erreichen.»[ 50 ]
    Das Mittel, um diese Ziele zu erreichen, lautete Bildung. Bildung entlang den neuen, durch das Konzept der Wissensgesellschaft vorgegebenen Inhalten galt als Schlüssel, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas in der globalen Wirtschaft langfristig zu sichern bzw. zu steigern. In der Wissensgesellschaft war Arbeit immer stärker an technische Innovationen gekoppelt; sollte deren Produktivitätsversprechen erfüllt werden, so hatte Arbeit vor allem hochqualifiziert zu
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