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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Autoren: Cordula Simon
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wusste nicht, wo er war, und wo war der Hund, wenn man ihn brauchte? Wann war er davongelaufen? Denn der Hund würde sich vermutlich erinnern, wo sie fast geschlafen hatten. Also wanderte er mit einem Ziel ohne einen Weg die Gehsteige entlang, einmal links, einmal rechts gehend und wieder links und wohin auch immer und weiter links, und er bemerkte gar nicht, dass er sich nur in einem Rajon bewegte und er erkannte die Häuser nicht wieder, die Wege nicht wieder, mit ihren markanten, breiten, tiefen Schlaglöchern in ihren breiten Gehsteigen. Da lag ein Schlüssel auf dem Boden und er nahm ihn an sich, auch wenn er nicht wusste, zu welcher Tür er gehörte, aber wenn man einen Schlüssel hatte, würde sich das Schloss schon von selber finden, ein dicker, massiver Schlüssel, wie er zu metallenen Türen passte. Er steckte ihn ein und entschied endlich, dass, wenn er schon sein Zuhause nicht finden würde, er zu der Frau, der gestrigen Frau zurückgehen würde und er machte kehrt und vollzog seine bisherigen Wege rückwärts nach, bog häufig falsch ab, folgte kaum dem Weg, den er gekommen war, schaffte es aber dennoch, ohne das Wissen, dass er bereits mehrmals an diesem Tor vorbeigekommen war, den Hof wiederzufinden, er hatte ihn erkannt, endlich, an den Wäscheleinen oder weniger an den Wäscheleinen, sondern vielmehr an dem, was daran hing, oder weniger an dem, was daran hing, als vielmehr an den Geschirrtüchern, die dort wie kleine Flaggen wehten, oder weniger an den Flaggen, als vielmehr an einer bestimmten, mit kleinen roten Herzchen aufgedruckt. Anatol hatte den Hof der Frau von gestern gefunden. Er stieg die paar eisernern Stufen zu ihrer Tür hinauf, begann zu klopfen, hätte er gewusst, wie sie hieß, er hätte ihren Namen gerufen. Vom Fenster neben der Tür würde sie sehen können, dass er es war, sie würde öffnen, er musste nur weiterklopfen, bis das Licht anging. Anatol wollte nicht glauben, dass sie nicht zu Hause war, er klopfte nun mit der Faust, weil die Fingerknöchel schon wehtaten und er fürchten musste, dass die trockene Haut über den Gelenken aufriss. Er setzte sich also auf die Stufen. Vielleicht sollte er auf sie warten. Vielleicht war da aber auch gar keine gestrige Nacht gewesen und er klopfte an eine unbekannte Tür. Anatol begriff zum ersten Mal, dass er allein war und niemand ihm helfen würde. Lange hielt die Erkenntnis nicht an, die ihn gerade so auf die Stufen niedergezwungen hatte, er saß unbequem, kein Wunder, waren seine Wunden doch immer noch nicht verheilt, sein Körper arbeitete zu langsam, und er drehte sich ein wenig, und wieder war Čelobaka wie gerufen zur Stelle. Blickte aus dem Fenster, dem bekannten Fenster der gestrigen Frau oder dem unbekannten Fenster einer fremden Wohnung. Vielleicht war es nicht der erste Moment gewesen, in dem sich Anatol mutterseelenallein fühlte, aber er konnte sich an keinen zuvor erinnern, vielleicht hatte der Hund mit seinem Schwanzwedeln diese Momente aber auch weggewischt. Ob und wie der Hund die verschlossene Tür überwunden hatte, konnte Anatol nicht sagen, doch kam das Tier plötzlich auf Anatol zu, der bereits aufgehört hatte sich zu wundern, stieß seinen Arm mit der Schnauze an, als wollte er sagen: Was sitzt du da? Wir müssen weiter, wir müssen immer weiter. Wir sind Reisende. Hast du das nicht verstanden? Und Anatol nickte langsam, hievte sich, sich am Geländer festhaltend, hoch, er war so weit. Er kümmerte sich nun auch nicht weiter um die Richtung, keineswegs, er folgte wieder der Hundsrichtung und hörte augenblicklich auf, sich Sorgen zu machen. Er wusste weder, wohin sie gingen, noch, wo sie bereits gelandet waren. Da lag Fleisch auf der Straße, abgenagte Knochen, und nicht einmal der Hund würdigte sie eines Blickes, obwohl er doch sonst alles beschnuppern musste. Da waren Prostituierte, die sich vor der Milicija verbargen, hinter Bäumen, damit die Baumschatten den Verrat des Tageslichts ausglichen, weil sie zu wenig verdient hatten. Da war ein anderes Hündchen, das nun endlich – so wie nichts bislang an diesem Tag, denn Čelobaka war konsequent, ohne einen Halt weitergelaufen, als wüsste er wieder einmal besser, wo ein Ziel zu finden war – Čelobakas Aufmerksamkeit erregte. Ein Hündchen mit traurigen Augen, hinkend und schwanzlos und am halben Körper kaum mehr Haare, ein hässliches rosa Ding mit kränklichen braunen Flecken auf der Haut. Čelobaka schnüffelte es an. Das Hündchen nur ein Schatten seiner
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