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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Autoren: Cordula Simon
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Frau alleine wohne. Irina öffnete das Fenster neben der Tür, es war notwendig zu lüften. Die meisten Fenster konnten nicht geöffnet werden, denn sie waren noch vom letzten Winter verklebt, damit es weniger zog, damit sie weniger fror, und sie hatte sich bislang nie die Mühe gemacht, die Fensterrahmen von den Klebestreifen zu befreien. Der Geruch des Fremden lag noch in der Luft, er hatte, obwohl sie doch geglaubt hatte – aber das hieß nicht viel, schließlich hatte sie auch geglaubt, dass es Anatol sein könnte –, dass er jünger sei, diesen Geruch alter Leute an sich kleben. Ein Geruch, den sie nur höchst selten gerochen hatte, denn es gab wenige Menschen, die Leben sind hier kurz und die Nächte lang, die ein Alter erreichen, dass sie schon zu Lebzeiten den klebrig-süßen Geruch der Verwesung verströmen, hinter sich herziehen, als würde der Tod ihnen schon ewig folgen. Im Westen, da wurden die Leute so entsetzlich alt, vermutlich roch es dort überall nach eingefallenen Augen, eingeschrumpelter Haut und Atemlosigkeit. Das Öffnen des Fensters erfüllte kaum seinen Zweck. Wie konnte es nur sein, dass es in der Wohnung ständig zog, aber Gerüche nicht entkommen konnten? Vielleicht klebte der Geruch auch schon an ihr. Wieso hatte sie ihn auch überhaupt berührt, den zerfetzten, kleinen, alten Mann? Sie ging in die Küche, drehte den Wasserhahn auf, und die Wohnung zitterte mit einem kurzen dumpfen Geräusch, das ihr sagte, dass das Gas bis in die Leitungen zündete, wusch sich die Hände mit warmem Wasser. Der Strom war wieder da. Sie wusste gar nicht mehr, ob sie für diesen Monat bezahlt hatte. Nun rochen die Hände nach verchlorter Verwesung. Sie betrachtete die Linien auf ihren Handflächen, da verbarg sich dieser Geruch, doch es fiel wenig Licht in die Küche, sie schaltete die Deckenlampe ein und die Glühbirne gab ein Schmatzen von sich, stürzte ohne ihr Gewinde aus der Fassung und brannte am Boden kurz weiter. Der Teppich würde einen Fleck zurückbehalten. Gut, dass es nur kurz geglüht hatte, denn sie besaß keinen Feuerlöscher. Auch die anderen Lichter in der Wohnung waren ausgefallen, die Sicherung war offenbar durchgebrannt. Das Licht hatte gerade noch gereicht, dass sie kleine Mehlwürmer an der Decke kriechen sah, in Richtung der Lampe, um sich zu verpuppen. Sie war doch nur ein paar Tage weg gewesen und schon tummelte sich das Ungeziefer. Ab nun würde es hier die Herrschaft übernehmen. Der Wind fand seinen Weg durch die verklebten Fenster. Sie rieb sich die Schultern. Den Spinnen wird es ohne sie in der Wohnung zu kühl sein, sie würden sich zusammenrollen und dem anderen Getier die Räume überlassen. Manchmal wünschte sie sich, dass alles besser geplant wäre. Dieser Augenblick beispielsweise. Das Sterben sollte so penibel geplant sein wie ihr Leben, To-do-Listen abarbeiten, bis da stand: Suizid. Aber sie hatte keine Liste geschrieben. Sogar alles leere Papier und die Kugelschreiber, die Bleistifte hatte sie zum Verkauf aufgebreitet. Leere Seiten von Forschung, manche mit Titeln wie »Das ewige Leben« oder »Der Körper, die lebendige Maschine« oder »Die Verantwortung der Wissenschaft als Angelegenheit von Leben und Tod« oder »Moral und Mord«. »Organspende von Tier an Mensch am Beispiel des Hundes«, »Organspende von Mensch an Tier am Beispiel des Hundes«, »Auswirkungen der globalen Erwärmung auf den menschlichen Körper«, »Die Anpassungsfähigkeit an neue Gegebenheiten des Homo sapiens sovieticus«, »Die Liebe zur Zeit der hormonellen Störungen«. Sie hatte nur die Titel auf den Blättern notiert, aber keinen einzigen Essay zu Ende geschrieben. Sie hatte oft gedacht, wenn sie dieses oder jenes Paper veröffentlichte, dann würde es die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen. Daher schrieb sie die Titel auf und träumte sich ins Zentrum von Podiumsdiskussionen, eine Person, der keiner das Wasser reichen konnte. Sie hätte Antworten gegeben, souverän und mit kalter Stimme. Vielleicht hätte sie in Wahrheit wie ein zitterndes Mädchen vor der Kamera gesessen, aber sie hatte es nicht auf den Versuch ankommen lassen. Sie hatte es lange als wichtiger erachtet, ihren Versuchsreihen nachzukommen, und als sie die Aufmerksamkeit hätte haben wollen, hatte sie immer mehr Titel gesammelt und manchmal selbst geglaubt, sie hörte sic h vom Bildschirm aus ihren ungeschriebenen Essays zitieren. Was von ihr übrig bleiben würde, in alle Winde verstreut, in verschiedene
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