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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Autoren: Cordula Simon
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ihn. Einstweilen, während Anatol den Hund bestaunte, ahmte der Wind das Singen von Sirenen nach und der Hundekopf, die Hundeschnauze stieß Anatol wieder an, lass uns wandern, und sie gingen vorbei an den mit Kohle gekritzelten Malereien von Seetod, Seemännern und eleganten aristokratischen Damen im schraffierten Sonnenschein. Unter den Füßen der Faschisten gab es weder Tag noch Nacht. So ein Seetod konnte nichts Schönes sein, Anatol konnte gar nicht schwimmen, und auch wenn er es vielleicht nicht mehr wusste, so wusste sein Körper, dass die Umzüge in der Kindheit verhindert hatten, dass er es je gelernt hatte, und der Körper hätte im Wasser gewusst, dass es da keine Erinnerung gab. Das Schwarze Meer war zu breit für den Styx, Anatol würde niemals auf die andere Seite gelangen. Er hasste den Strand, er würde also nicht dorthin gehen, wo ihm schien, dass Fledermäuse die Luft durchzuckten, sondern in die andere Richtung. Wo die Fledermäuse waren, gelangte man ans Wasser oder aufs Land, was sollte er dort? Schiffe und Stimmen, Odysseus und die Sirenen Odessas zu hören? Ob jemand auf sein Begräbnis käme, stürbe er nun? Wer war denn bei seinem letzten Begräbnis gewesen? Wer hatte es bezahlt? Der Staat wohl kaum. Die treiben vermutlich immer irgendwo einen Verwandten auf, überlegte er. Gut, dass wenigstens Čelobakas Kopf noch da war. Nachdem er das Leichenhemd ausgezogen hatte, hatte ihn das Glück verlassen, immerhin hatte er noch den Hund. Tatsächlich, der Hundekopf blieb, als Anatol verloren ging, in seiner letzten Angst, sich selbst zu vergessen. Er war plötzlich verschwunden. Anatol hatte sich umgedreht und war weg gewesen und Anatol hatte gedacht, dass er sich vielleicht nur unter dem Fledermauszucken geduckt hatte. Er hatte nach sich gerufen, laut wie ein Schachtarbeiter, mit gepresster Stimme, geschredderte Stimme, die die Tramvaj, die über seiner Stimme hinwegfuhr im dunklen Tunnel, einfach zerschmettert hatte. Zumindest war er überzeugt, eine Tramvaj gehört zu haben, wie er das Geräusch aus Unterführungen kannte, obwohl es still war in den Katakomben. Nicht einmal, mehrmals rief er. Zweitausendfünfhundert Kilometer, das war die ungefähre Zahl, vermutlich mehr. Wenn er verloren ging, würde er sich nicht mehr wiederfinden, in dieser Zahl, in dieser Länge und Weite des luftlosen Spinnennetzes mit steinernen Gespenstern. Er würde Jahre brauchen, sich wieder zu finden und dann gewiss nur tot, als hätte er nicht gespürt, wie er doch an seinem Leben hing, in den letzten Tagen. Mit einer vom Fleischwolf zerbissenen Stimme rief er sich noch einmal, mit einer von der vorherigen Nacht zerkauten Stimme, der die Töne fehlten. Es gab nur mehr einen Ton, eine Lautstärke, eine geringe. Im Dunkeln stand er. Irgendwie trennten wir uns, flüsterte er, es juckte im Hals. Und er hatte keine Lampe gebracht, wie es ein Schachtarbeiter getan hätte, den Weg zum Hades leuchtend. Sonst hätte er die Laterne im Blick behalten können und die Malereien von Zaren und Russalken, Hitler, Stalin und Sputnik näher betrachten und ihnen folgen. Inmitten eines Korridors fiel er über einen Körperhaufen und drehte die Leichen, wie beim Ausverkauf Unterhosen in der Wühlkiste, fand sich darunter mit zerstörtem Gesicht und ohne Ohren, sein Name groß auf seinen Schädel geschrieben, auf die Rückseite des Knochens notiert. Da hörte Anatol ein dumpfes Schreien, ein zahniges, nasses Schreien, ein Hundebellen, und er schüttelte die Knochen vom Rücken. Nein, er hatte keine Knochen gesehen, nur ein kleines Alligatorenskelett in Händen gehalten. Es hatte noch einen Kabelbinder ums Maul und war wohl in die Katakomben entkommen, um nicht mehr auf der Potemkinschen Treppe mit Touristen posieren zu müssen, um unterirdisch jämmerlich zu verhungern. Nein, der Alligator war noch in seinen Händen gewachsen, hatte den Kabelbinder gesprengt und sich klappernd davongemacht, denn Anatol war kein adäquates Futter, von seinem Aasdunst umgeben. Die Fledermäuse an den Ausgängen verpotteten ihn schon, die dort dekadent an den faustgroßen, flachen Spinnen saugten, während Anatol einen Schacht hinunterstürzte, den er nicht hinaufgestiegen war, ein schmales Loch, unter dem sich ein Gang von vier Metern Höhe befand. Die Fledermäuse wischten geräuschvoll über das Gesicht, wie er hingefallen am Boden lag, die Haare in einer Pfütze oder in Fledermauskot, den Kopf in einem Kreischen. Bis er, flip-flap, fortgetragen wurde.
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