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Der Pestengel von Freiburg

Der Pestengel von Freiburg

Titel: Der Pestengel von Freiburg
Autoren: Astrid Fritz
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der Hauptturm, ein Wunder der Baukunst, über dem Eingangsportal himmelwärts. Sein Helm, diese einzigartig feingliedrige, vielfältig durchbrochene Pyramide aus Rippen und Maßwerk, ganz ohne Gewölbe und Innenverstrebung, schien sich vollends von der Erde loszulösen.
    In ein, zwei Jahren würde das Gerüst an den Chortürmen als auch im Innern des Langhauses, wo man gerade die Lichtgadenfenster farbig verglaste, abgebaut werden. Dann würde das Gotteshaus, das bereits jetzt von manchen Bürgern Münster genannt wurde, in seiner ganzen Herrlichkeit vollendet sein – vergleichbar nur noch dem in Straßburg, das gleicherweise in jener verwegenen, neuartigen französischen Baukunst der Spitzbögen und Strebewerke errichtet war. Scheinbar schwerelos wagten sich Turm und Gewölbe in eine bis dahin unvorstellbare Höhe und waren durch ihre Bögen und Pfeiler doch fest im Boden verankert. Auch im Kircheninneren strebte alles himmelwärts: die Pfeiler und Säulenbündel, die Spitzbögen und kostbaren farbigen Fenster, die wie Edelsteine funkelten und das irdische Licht in himmlisches verwandelten.
    Benedikt erfüllte eine Art demutsvoller Stolz darüber, dasser seinen Teil beitrug zu diesem Kirchenbau. Und dennoch brannte in ihm eine Sehnsucht, die bislang unerfüllt geblieben war. Einmal nur wollte er für dieses Freiburger Gotteshaus eine Skulptur schaffen. Etwas so Erhabenes wie die Mutter Maria am Pfeiler des Hauptportals, die liebevoll und mit geheimnisvollem Lächeln das Jesuskind in ihrem Arm betrachtete. Oder etwas so Geheimnisvolles wie die Wasserspeier, diese wundersamen Phantasiewesen halb Mensch, halb Vieh. Da gab es angsteinflößende Dämonen, gestaltgewordene Albträume, aber auch freche Wesen, wie etwa den Nasentrompeter oder die doppelköpfige Figur, die ihren nackten Hintern in die Luft streckte – eine Rache der Steinmetze, als sie einstmals monatelang keinen Lohn bekommen hatten.
    So wahrhaftig und voller Leben, wie diese Skulpturen waren, würde auch er gestalten wollen. Doch dazu musste er erst Meister werden. Musste sich in den Entwurfstechniken vervollkommnen, den Goldenen Schnitt beherrschen mit seinen mathematischen Erscheinungen, dazu all die magisch zu nennenden Formeln zur Berechnung von Mauerdicke und Winkeln. All das lag ihm indessen weit weniger als das Gestalterische.
    Mit einem wehmütigen Lächeln sammelte er sein Werkzeug ein, rieb es mit einem Lappen sorgfältig ab und verstaute es ordentlich in seiner Kiste. Währenddessen schweiften seine Gedanken ab zu Esther. Warum nur hatte sich seine Mutter heute Morgen erneut in seine Angelegenheiten eingemischt? Hatte Vater nicht ihn beauftragt, zu den Grünbaums zu gehen? Endlich hätte sich wieder einmal die Gelegenheit geboten, Esther zu sehen, vielleicht sogar ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Aber nein – seine Mutter hatte ihn behandelt wie einen Schulknaben. Benedikt spürte, wie der Zorn, der ihm schonden ganzen Morgen verdorben und sogar diesen bedrohlichen Albtraum in Vergessenheit hatte geraten lassen, wieder in ihm aufflammte.
    Als er sich umdrehte und die Werkstatt verlassen wollte, stand Meister Johannes vor ihm.
    «In der Portalhalle ist eine der Figuren schadhaft. Ich möchte, dass du dir das im Frühjahr gleich als Erstes vornimmst. – Ich weiß, du kannst das», fügte er hinzu.
    Benedikt errötete vor Freude und Verlegenheit. Er durfte sich tatsächlich als Bildhauer beweisen, dazu noch an einer der wertvollen Skulpturen des Kirchenportals! Augenblicklich war der Groll gegen seine Mutter verflogen.
    «Morgen nach dem Gottesdienst wird dir der Parlier alles Weitere erklären.»
    «Danke», stotterte Benedikt nur.
    Er bewunderte Meister Johannes von Gmünd, der jener weitberühmten Baumeisterfamilie der Parler entstammte. Vor etlichen Jahren hatte man ihn geholt, damit er die alten Seitentürme erneuere und den Chor um eine Kapelle erweitere, und schon bald darauf hatte er Benedikt zu dessen unsagbarem Glück in die Lehre genommen. Den Moment, als der Meister ihn vier Jahre später feierlich in den Gesellenstand erhoben hatte, würde Benedikt nie vergessen. Vor dem Kirchenportal, in Anwesenheit aller Werkleute, hatte er sich mit dem Schwur auf die Hüttenordnung dazu verpflichtet, die Geheimnisse der Bräuche und der Baukunst stets zu wahren. Hatte sein Steinmetzzeichen erhalten und war damit in der Bruderschaft aufgenommen, jener stolzen, freien Handwerkerschaft der Steinmetze, die sogar ihre eigene Gerichtsbarkeit
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