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Der Parasit: Kurzgeschichte

Der Parasit: Kurzgeschichte

Titel: Der Parasit: Kurzgeschichte
Autoren: Karin Slaughter
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konnten uns ein schönes Auto leisten, ein schönes Haus. Stiefmütterchen im Garten. Sogar einen Pfirsichbaum.
    Das alles war für uns erledigt, wenn die Polizei die Sache mit Mindy Connor herausfand.
    »Denk doch nicht dauernd daran.« Kirk klemmte sich seine Aktentasche unter den Arm. »Bleib einfach cool.«
    »Hier in Georgia gibt es die Todesstrafe, Kirk.«
    »Und was wollen die machen? Einem von uns die Nadel setzen und das Gift dann in den anderen laufen lassen?«
    »Eine Gefängnisstrafe überlebe ich nicht. Das schaffe ich nicht.«
    »Hör auf mit dem Gejammer.« Er trat gegen ein loses Stück Asphalt. »Achten wir nicht immer gut auf einander?«
    »Na ja …« Ich sprach nicht weiter.
    Achtete Kirk immer gut auf mich? Wenn man nur an das Feuer dachte, konnte man das bejahen. Das war vor dreizehn Jahren gewesen. Wir hatten in einem Apartment in der Nähe der Peachtree Street gewohnt. Die alte Frau nebenan war mit einer Zigarette im Mund eingeschlafen. Kirk war aufgewacht und hatte den Rauch gerochen. Ich hatte schon immer einen tiefen Schlaf gehabt und entkam dem Feuer nur, weil er mich aus dem Bett zog.
    »Aber Kirk ist doch auch davongekommen«, könnte man sagen.
    Vielleicht sollte ich ein komplizierteres Beispiel von vor zwölf Jahren wählen. Am gestrigen Abend hatte Kirk unsere Freiheit nicht zum ersten Mal aufs Spiel gesetzt. Er hat seit jeher gern eine dicke Lippe riskiert. Vielleicht war er einfach streitlustig oder er hatte einen Komplex. Man könnte auch sagen, der Komplex war ich. Jedenfalls glaubte er immer, irgendetwas beweisen zu müssen.
    »Jung, dumm und voller Wichse«, sagte Kirk oft.
    Eines Abends ließ so ein Idiot an einer Bar uns nicht in Frieden. Immer wieder befingerte er Kirk, tastete an ihm herum wie an einer Laborprobe.
    »Missgeburt! Missgeburt! Missgeburt!«, quakte er wie eine Ente.
    Ich ignorierte den Idioten – bei Großmäulern und Schlägertypen immer die beste Taktik. Aber Kirk konnte das nicht. Irgendetwas an dem Kerl ging ihm komplett gegen den Strich. Aus Spott wurden Drohungen. Die Drohungen führten zu Geschubse. Aus Schubsen wurde Rempeln. Dann der erste Schlag und plötzlich flogen die Fäuste.
    Kirks Fäuste.
    Meine Fäuste.
    Wer konnte das schon sagen?
    »Missgeburt« hatte der Kerl uns genannt. Genau wie unsere Eltern. Dieses Wort, das auch ungezogene, unverschämte Kinder hinter uns her riefen, bevor sie sich hinter dem Rockzipfel ihrer Mütter versteckten.
    Kirk übernahm vor Gericht die Verteidigung. Er sagte unserem Anwalt, er solle sich setzen und erklärte jedem, der es hören wollte, wir seien zusammen auf diese Welt gekommen und würden uns auch zusammen verteidigen. Nicht dass ich in irgendeiner Weise dazu in der Lage gewesen wäre. Ich schluchzte nämlich so heftig, dass ich kaum ein Wort herausbrachte. Kirk hatte dem Richter gesagt, er sei nicht sicher, wer den Kerl so hart getroffen hatte, dass sein Ohr abgerissen war. Wer den Kiefer des Mannes gebrochen hatte und auf seiner Hand herumgetrampelt war. Sicher war nur, dass der Kerl einen von uns angegriffen hatte und wir damit beide angegriffen worden waren.
    Wir waren Brüder. Nicht nur durch unsere Herkunft verbunden, sondern durch Haut, Fleisch und Knochen. Verletzte man einen von uns, blutete auch der andere. Schlug man einen von uns, dann traf man auch den zweiten.
    Was den Richter schließlich überzeugte, war Kirks tränenreiches Plädoyer: Der Mann in der Bar, das sogenannte Opfer, hatte uns eine Missgeburt genannt. Nicht einmal Missgeburten. Nur eine Missgeburt. Als wären wir nicht zwei unabhängige menschliche Wesen. Jeder von uns hatte eine Sozialversicherungsnummer. Jeder zahlte Steuern. Wir hatten beide eine Prüfung bestehen müssen, bevor wir jeder einen eigenen Führerschein bekamen. Waren wir denn keine Menschen? Zwei getrennte Gehirne, zwei eigene Gedanken?
    Und dann hatte Kirk die »Siamesenkarte« gespielt, wie die Presse es nannte.
    Wären wir nicht zusammengewachsen, sondern Einzelpersonen – zwei Brüder, die für einander eintraten – würde uns dann jetzt auch eine acht- bis zehnjährige Gefängnisstrafe drohen? Wollte der Richter wirklich einen Bruder dafür bestrafen, dass er den anderen verteidigt hatte? Konnte er einen Mann ins Gefängnis schicken und damit denanderen dazu verdammen, einen hohen Preis für ein Verbrechen zu bezahlen, das er gar nicht begangen hatte?
    Zugegeben, der Richter war verwirrt. Doch Kirks wortgewaltige Predigt über den brüderlichen
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