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Der Parasit: Kurzgeschichte

Der Parasit: Kurzgeschichte

Titel: Der Parasit: Kurzgeschichte
Autoren: Karin Slaughter
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Zusammenhalt hatte am Ende den Ausschlag gegeben. Selbst ich war gerührt. Mein Schluchzen verwandelte sich in Tränen der Dankbarkeit für die liebevollen Worte aus dem Mund meines Bruders.
    Fünf Jahre Bewährung. Übernahme der Behandlungskosten des Opfers.
    So verließen wir das Gericht als freie Männer. Nur das zählte für mich. Die furchtbare Angst in der Arrestzelle in der Nacht nach unserer Verhaftung hatte mich geläutert. Und Kirk war zwangsläufig mitgeläutert worden. Immer wenn er die Faust hob oder jemanden bedrohte, war ich da, um die Wogen zu glätten. Ihn zu beruhigen. Die Situation zu entschärfen.
    Bis gestern Nacht.
    Kirk öffnete die Eingangstür des Dixie Forschungszentrums. Wilhelmina Lenting, die Empfangsdame, saß hinter der halbkreisförmigen Theke und sah mit der blauen Bluse und den dazu passenden Ohrringen sehr adrett aus.
    Kirk beachtete Willie nie. Dabei wusste er, was ich für sie empfand. Der Anblick der anmutigen Biegung ihres Halses reichte aus, um meine Gedanken mit schlechter Poesie zu fluten, ihre wohlklingende Stimme ließ angenehme Schauer über meine Seite des Rückens laufen. Trotzdem hatte Kirk in den zehn Jahren, in denen Willie nun schon bei Dixie arbeitete, nie mehr als einen flüchtigen Blick für sie übrig gehabt. Er brannte so sehr darauf, endlich mit der Arbeit loszulegen, dass er sich kaum die Zeit nahm, sie zu grüßen, bevor wir buchstäblich zu unserer Kabine joggten.
    Heute hielt er an. Ich stand da wie ein Idiot und wusste nicht, wohin mit meiner Hand. Ich scharrte mit dem Fuß.
    Kirk sagte: »Hast du eine andere Frisur, Willie?«
    Willie strich über ihre braunen Locken. Sie glänzten nicht, warennicht mal echt. Vermutlich leistete sie sich an jedem zweiten Zahltag eine Heimdauerwelle. Aber es war irgendwie schön, wie die Löckchen sich an ihren Kopf schmiegten. Dabei wusste ich nicht einmal genau, was mir daran so gut gefiel. Wenn ich die Kontrolle über einen Penis gehabt hätte, hätte ich vielleicht einen ähnlich gewöhnlichen Frauengeschmack gehabt wie Kirk. Aber Willie war die Sorte Frau, mit der ich mir ein Gespräch vorstellen konnte. Ein langes Gespräch. Und falls wir dabei herausfanden, dass wir gewisse Gemeinsamkeiten hatten, würden wir uns vielleicht sogar zu einem Date verabreden.
    Ich hatte noch nie ein Date gehabt. Kirk war derjenige, der die Tochter des Schulhausmeisters dazu gebracht hatte, mit ihm zum Abschlussball zu gehen. Kirk hatte seine Jungfräulichkeit auf der Rückbank eines Busses verloren, der auf dem Gelände einer Zeltmissionsveranstaltung vor der Bethel-Baptistenkirche geparkt war. Es waren seine Lippen, die andere Lippen berührten. Und er wusste, wie es sich anfühlte, wenn warmes Fleisch sich gegen mehr als nur seinen Schenkel drückte.
    Ich war derjenige, der bei alldem zuschaute. Der, mit etwas Glück, ein Kribbeln oder Ziehen wahrnahm, während Kirk sich wie ein Wildeber in einem Berg frischen Chicorées suhlte.
    Willie tätschelte ihre kleinen Lockenkringel. »Nett, dass du fragst. Aber mein Haar ist genau wie immer.« Sie war um einiges älter als wir, irgendwo jenseits der Siebzig, und sagte Sachen wie: »Hattet ihr ein schönes Wochenende, meine Schätze?«
    Kirk lächelte. Ich war fast sicher, dass er ihr sogar zuzwinkerte. »Hatten wir, Willie. Morgens waren wir in der Kirche und gestern Abend waren wir zu Hause und haben uns einen Film angesehen.«
    »Welchen denn?«
    »,Vier Schwestern‘«, antwortete Kirk ohne das geringste Zögern. »Mit Katharine Hepburn.«
    »Das ist die beste Fassung«, sagte sie und ließ damit mein Herz höher schlagen. Ich hatte gewusst, dass sie alte Filme mochte. Und nicht bloß, weil sie sie schon gesehen hatte, als sie noch neu waren.
    Kirk muss meine Freude gespürt haben. Aber anstatt sie wie sonst zu ersticken, fragte er Willie: »Willst du mit uns Mittagessen?«
    Sie drückte die Hand auf ihre große Brust. Ihre großen Brüste. Damit ließ sich doch etwas anfangen. Ein Arm, ein Gesicht, zwei Brüste. Was brauchte ein Mann schon mehr?
    Willie antwortete: »Das wäre wundervoll.«
    »Dann sehen wir uns zum Lunch«, sagte Kirk. Vermutlich war ich immer noch völlig in den Anblick ihrer Brüste vertieft. Ob die beiden sonst noch etwas sagten, bekam ich jedenfalls nicht mit. Kirk musste mich praktisch den Flur entlang schleifen.
    »Das war doch ganz einfach, oder?«, sagte er.
    Ich brachte keinen Ton heraus. Ich ging nicht, ich schwebte. »Sie hat noch nie mit mir
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