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Der Parasit: Kurzgeschichte

Der Parasit: Kurzgeschichte

Titel: Der Parasit: Kurzgeschichte
Autoren: Karin Slaughter
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Aussagen auf einander abstimmen. Jetzt sofort.«
    »Ich muss jetzt arbeiten.« Ich versuchte, mein Telefon wieder einzustöpseln, doch er packte meine Hand. »Was soll das?«
    Er sah über meine Schulter. »Die Polizei ist da.«
    »Mach keine blöden Witze.«
    Eine Hand legte sich hart auf meine Schulter. Es war nicht Kirks Hand. Ich betrachtete die haarigen, knorrigen Fingerknöchel, ließ den Blick an dem dunkelblauen Ärmel entlang wandern. Hinter mir stand ein Mann.
    »Mr. Edgerton?«
    Meine Kehle zog sich zusammen. »Ja?«, sagten Kirk und ich gleichzeitig.
    Mit einem verwirrten Blick kratzte der Mann sich an seinem kantigen Kinn. Obwohl es noch früh am Morgen war, schimmerten die Bartstoppeln schon wieder durch. Für jemanden mit nur einem Kopf hatte er ziemlich breite Schultern. »Ich bin Detective Peter Jensen vom Atlanta Police Department. Ich muss mich mit Ihnen über einen Fall unterhalten.«
    »Polizei?«, japste Kirk. »Was will denn die Polizei von meinem Bruder?«
    Ich warf Kirk einen bösen Blick zu. »Mit welchem von uns wollen Sie sprechen?«
    Jensens Augen wanderten zwischen Kirk und mir hin und her.
    »Welcher von uns soll es denn sein?«, fragte Kirk. »Wollen Sie sich mit mir oder mit meinem Bruder unterhalten?«
    Der Detective hatte offenbar keine Lust, sich verschaukeln zu lassen. »Würden Sie bitte aufstehen, Mr. Edgerton?«
    »Welchen meinen Sie?«, fragten wir einstimmig. Ich spürte, wie mir ein Schweißtropfen über den Rücken lief. Dann lief ein zweiter über Kirks Rücken.
    Ohne Vorwarnung rammte Jensen die Faust in meine Achselhöhle und riss uns vom Stuhl. Er schleuderte uns herum, und wir mussten die Hände ausstrecken, um nicht mit den Gesichtern gegen die Kabinenwand zu prallen.
    »O Gott«, betete ich. Mein Arm wurde hinter meinen Rücken gezerrt. Ich hörte das metallische Klicken von Handschellen.
    »Fick dich, du Sau!« Kirks Hand flog in seiner John-Travolta-Pose in die Luft. Jensen wollte nach Kirks Handgelenk greifen, aber Kirk war größer. »Ich will einen Anwalt!«
    »Wollen Sie den Vorwürfen gegen Sie auch noch Widerstand gegen die Staatsgewalt hinzufügen?« Jensen drückte Kirks Gesicht gegen die Wand. »Gib mir einen Grund, Arschloch. Los, gib mir einen Grund.«
    »Officer«, sagte ich. »Ich leiste keinen Widerstand …«
    Jensen trat mir in die Kniekehle und ich stürzte zu Boden. Kirk fiel auf mich.
    »Nein!«, schrie er. »Das ist nicht fair!«
    »Das war das, was du dieser Frau angetan hast, auch nicht.« Jensens Knie bohrte sich in meinen Rücken. Er schloss die Handschelle um Kirks Handgelenk. »Du hast sie erschlagen wie einen Straßenköter«, murmelte er. »Was bist du bloß für ein Tier?«
    »Das war nicht ich!«, schrie Kirk. »Das war mein Bruder!«

DREI
    Chang und Ang Bunker sind vielleicht die berühmtesten siamesischen Zwillinge der Geschichte. »Siamesische Zwillinge« nannte man sie, weil sie aus Siam stammten. Jahrzehntelang zogen sie als Jahrmarktsattraktion umher. Nachdem sie mit ihren Auftritten ein Vermögen gemacht hatten, ließen sie sich als Farmer in Tennessee nieder. Tagsüber bestellten sie das Land, abends kümmerten sie sich um ihre Ehefrauen und Familien.
    Ja, sie hatten Ehefrauen und Familien. Chang und seine Frau hatten zehn Kinder. Ang und seine Frau hatten elf. Weil die Ehefrauen, die übrigens Schwestern waren, sich nicht gut verstanden, lebten die beiden Männer in getrennten Haushalten. Drei Nächte verbrachten sie in Changs Ehebett, die nächsten drei in Angs. Sie waren wohlhabende Farmer. Angesehene Bürger. Ihre Söhne zogen für die Konföderierten in den Bürgerkrieg, was vielleicht nicht gerade löblich war, aber doch in gewisser Weise ehrenhaft.
    Die Zwillinge starben am selben Tag. Chang starb in einer langen Januarnacht an einer Lungenentzündung. Als Ang morgens aufwachte, lag sein Bruder tot neben ihm. Angs Frau und seine Kinder hörten sein Wehklagen und versuchten, ihn zu trösten. Ein Arzt wurde geholt. Er wollte die beiden trennen, doch Ang lehnte ab. Er wollte nicht ohne seinen Bruder leben.
    Er starb ein paar Stunden später.
    Heute bräuchte man nur wenige Stunden, um die Männer durch eine Operation zu trennen. Die Ärzte würden sie als xiphoide Zwillinge bezeichnen. Sie waren am Brustbein durch ein kleines Stück Knorpel verbunden, hatten eine gemeinsame Leber mit zwei unabhängig von einander arbeitenden Hälften. Die Leber ist ein ganz besonderes Organ. Von allem, was der menschliche Körper zu bieten
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