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Der Parasit: Kurzgeschichte

Der Parasit: Kurzgeschichte

Titel: Der Parasit: Kurzgeschichte
Autoren: Karin Slaughter
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hat, ist sie einem Salamander am ähnlichsten. Man kann sie in Stücke schneiden und sie wächst wieder zu einem vollständigen Ganzen heran.
    Die reizenden Hensel-Mädchen sind Craniopagus-Zwillinge, wasbedeutet, dass sie am Kopf zusammengewachsen sind, aber nahezu vollständig ausgebildete eigene Körper haben.
    Die etwas zurückgezogener lebenden Gaylon-Brüder sind Omphalo-Ischiopagus-Zwillinge mit vier Armen und vier Beinen. Miteinander verwachsen sind sie am Bauch. Sie leben in der Geborgenheit einer großen Familie und haben neun weitere Geschwister.
    Kirk und ich sind Thoraco-Omphalopagus-Zwillinge – auf ganzer Brustlänge verbunden. Wir haben ein gemeinsames Herz. Eine Leber. Ein weitgehend gemeinsames Verdauungssystem. Und so viel ich weiß, sind wir das einzige siamesische Zwillingspaar im US-Strafvollzug.
    Schwere Körperverletzung. Vergewaltigung. Mord. Als die Fotos vom Tatort erst einmal auf dem Tisch lagen, war es schwierig, sich noch irgendwie rauszureden. Arme Mindy Connor. Das Blitzlicht des Polizeifotografen war noch unbarmherziger als die Xenonbeleuchtung des Pink Pony-Parkplatzes. Mindy war kein hübsches Mädchen. Sie war nicht mal ein Mädchen. Dreiundvierzig Jahre alt. Vor fünf Jahren hatte sie das Sorgerecht für ihre Kinder verloren, weil ihr die Nadel wichtiger geworden war als ihre Mutterpflichten. Ihr Vater sagte, sie hätte in der Zeit vor ihrem Tod versucht, von den Drogen loszukommen. Sie fing mit dem Stricken an, damit ihre Hände beschäftigt waren. Vielleicht war es Mindy gewesen und nicht die Großmutter, die die Ärmel der Rentierpullover in meinem Traum zu lang gestrickt hatte.
    Kirk hatte Mindys Leiche in den Müllcontainer hinter dem Pink Pony werfen wollen. Rückblickend wäre das vielleicht schlauer gewesen, als meine Idee, sie am Blue Ridge Parkway am Straßenrand abzulegen. Wie soll ich das erklären? Damals war ich noch gefühlsduseliger. Frische Bergluft. Himmelhohe Fichten. Hirsche. Kaninchen. Trucker, die aus dem Fenster des Führerhauses schauten, an der Straße eine Leiche entdeckten und umgehend die Polizei verständigten.
    Kirk und ich bekamen separate Verfahren, in denen wir uns gegenseitig des Mordes bezichtigten, und jeweils eigene Verteidiger. War Kirk allein verantwortlich für das, was mit der armen Mindy Connorpassiert war? Diese Frage kann ich ehrlich gesagt nicht beantworten. Die Beweise sprachen für sich.
Meine
Hände
hatten
auf ihrem Rücken blutige Fingerabdrücke hinterlassen. Bedeutete das, dass ich geholfen hatte, ihre Leiche zu tragen? Oder dass ich sie an der Flucht gehindert hatte, als Kirks Faust auf ihr Gesicht eingeschlagen hatte wie auf einen Punching-Ball? Die Vergewaltigung war nicht wirklich eine Vergewaltigung, sondern eine Transaktion, die vor der eigentlichen Tat stattgefunden hatte. Aber das kann man kaum zu seiner Verteidigung vorbringen, während die Eltern der toten Frau in der ersten Reihe hinter dem Staatsanwalt sitzen. Weder Kirk noch ich versuchten das auch nur. Er ließ es bleiben, weil ihn das noch schlechter dastehen lassen hätte, und ich, weil mein Sperma sich genetisch nicht von Kirks unterscheidet.
    Keiner von uns plädierte auf »nicht schuldig«. Es ging vor allem um das Ausmaß der Tatbeteiligung. Kirk behielt letztendlich recht. Man konnte nicht einen von uns im Namen des Volkes in die Todeszelle schicken, ohne den anderen mit dorthin zu verfrachten.
    Kirks Verurteilung liegt sechs Monate zurück. Meine sechseinhalb. Seit Detective Peter Jensen uns auf die Rückbank des Streifenwagens gedrückt hat, haben wir nicht mehr miteinander geredet.
    »Sag ihm, dass sie auf uns losgegangen ist!«, hatte Kirk gezischt, als Jensen uns vor sich her um den Wagen schob. »Wir haben uns bloß verteidigt.«
    »Halt die Klappe«, sagte ich. »Du Missgeburt.«
    Das war’s. Von da an sprach Kirk kein Wort mehr mit mir. Sah mich nicht mal mehr an. Half mir weder beim Schuhe binden noch dabei, den Gürtel zurechtzurücken. Nicht, dass mir der Mangel an sprachlicher Kommunikation viel ausgemacht hätte. Ich kannte Kirks Ausreden schon, bevor sie ihm über die Lippen kamen. Diesmal war es nicht wie bei unserer ersten Bekanntschaft mit dem Strafrecht, wo die Siamesenkarte uns gerettet hatte. Einen notorischen Kneipenhocker mit Goldzahn und Brillantohrring zusammenzuschlagen, war nicht das gleiche, wie eine Frau brutal zu ermorden und sie dann amStraßenrand liegen zu lassen.
    Genau das hatten wir getan. Das war nicht zu leugnen. Wir
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