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Der Parasit: Kurzgeschichte

Der Parasit: Kurzgeschichte

Titel: Der Parasit: Kurzgeschichte
Autoren: Karin Slaughter
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durchsetzen. Auf diese Weise wird ein Embryo auf Kosten des anderen dominant.
    »Also das klingt nun eindeutig nach mir«, hatte Kirk gemurmelt. Er befeuchtete meinen Finger, damit ich umblättern hatte können.
    In krasser Juxtaposition dazu steht der Parasit, der ohne den Wirt nicht überleben kann. Der unterentwickelte Zwilling ist vom dominanten Zwilling, auch Autosit genannt, vollkommen abhängig. Diese ungleiche Beziehung führt oft zu lebenslangen, von Abhängigkeit und Feindseligkeit geprägten Verhaltensmustern.
    Nach diesem Satz hatte Kirk das Buch zugeklappt. Sein Leseverständnis war nie besonders gut entwickelt gewesen, aber ich spürte, dass er den Sinn der Abschnitte verstand. Also machte ich mich aufden unvermeidlichen Witz gefasst, den beiläufig grausamen Kommentar, der meine Seele durchbohren würde wie eine heiße Nadel einen Luftballon. Kirk hatte einen seltsamen Ausdruck im Gesicht – eine Mischung aus Geistesblitz und flammendem Zorn, die hinter seinen Augen brannte. Der Ausdruck verschwand so plötzlich, wie er gekommen war.
    Kirk ließ das Buch auf einen Tisch fallen. Er warf einen Blick auf meine Uhr, dann sagte er: »Sollen wir zum Mittagessen zu dem neuen Mexikaner gehen?«
    Als Siebzehnjährige waren wir, was unseren Zustand betraf, alles andere als ahnungslos. Wir waren in dem Wissen aufgewachsen, dass mit uns irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Weshalb sonst sollten die Leute auf der Straße stehen bleiben und uns anstarren? Warum hätten unsere Mutter und unser Vater uns sonst auf den Stufen der Universitätsklinik zurücklassen sollen? Zusammen mit einem Zettel, auf dem stand: »Bitte untersuchen Sie die Missgeburten, damit Sie anderen helfen, dass sie nicht diesen gleichen Alptraum erleben müssen, wo uns fast fertig gemacht hätte.«
    Selbstlos, mag der eine sagen. Kindesaussetzung, könnten andere behaupten. Wieder andere finden vielleicht vor allem die haarsträubende Grammatik schockierend.
    Unsere Eltern hatten uns den Ärzten als Studienobjekte überlassen und studiert wurden wir nach allen Regeln der medizinischen Kunst. Wir kamen in staatliche Obhut. Kein Mensch stellte sich dem Arzt entgegen, der Kirks Hand in kochendes Wasser tauchen wollte, um zu sehen, ob ich den Schmerz spürte. Niemand sagte ihnen, sie hätten kein Recht, mir Sonden ins Hirn zu stecken, um festzustellen, ob meine Gedanken Kirk dabei halfen, Mathematikaufgaben zu lösen. Nicht einer trat je für uns ein und erklärte, dass wir keine Versuchskaninchen waren. Wir waren keine Missgeburten. Wir waren menschliche Wesen.
    Über unseren Tacos beschlossen wir, dass wir nicht ins Krankenhaus zurückkehren würden. In einem Monat wären wir achtzehn. Von da an würden wir offiziell als Erwachsene gelten und warendamit von den Fesseln staatlicher Obhut befreit. Dank verschiedener Zeitungsberichte, die man im Laufe der Jahre über uns geschrieben hatte, hatten wir Geld auf dem Konto. Völlig Unbekannte schickten Bargeld und Schecks, um ein Schicksal wie das unsere von ihrer Familie abzuwenden. Über hunderttausend Dollar waren so zusammen gekommen. Im Jahr 1990 war das ziemlich viel Geld. Das ist auch heute noch so, aber für uns bedeutete es damals die Freiheit. Die Freiheit von Untersuchungen. Die Freiheit von ständiger Überwachung. Das Ende der Tyrannei.
    »Wayne«, sagte Kirk. »Wir sind da.«
    Ich bog scharf in den Parkplatz ein und stellte den Van an die übliche Stelle, sechs Plätze vom blau markierten Behindertenparkplatz entfernt. Wir hatten nie zu denjenigen gehört, die aus ihrer Lage einen Vorteil ziehen wollten. So lange wir zwei Beine hatten, konnten wir den kurzen Weg bis zum Gebäude gut laufen.
    »Dixie Forschungszentrum« stand über dem Eingang. Nicht die Art Forschung, die man sich vorstellt, sondern vielmehr ein hochtrabender und ziemlich irreführender Name für ein Callcenter. Die nervigen Anrufe am Abend, wenn man eigentlich in Ruhe essen möchte? Das könnte ich sein oder Kirk oder einer unserer Kabinennachbarn, der versucht, Fassadenverkleidungen, neue Fenster oder eine mobile Teppichreinigung zu verkaufen. Telefonieren war etwas, was wir unabhängig von einander tun konnten. Und ohne unbescheiden klingen zu wollen – wir waren verdammt gut. Kirk und ich hatten so oft abwechselnd den Titel ,Bester Telefonist des Monats‘ getragen, dass man uns die Auszeichnung fürs Leben verliehen hatte. Wir arbeiteten schon seit über zwanzig Jahren bei Dixie und verdienten hier gutes Geld. Wir
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