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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain
Autoren: Courtney Miller Santo
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gesehen hatte. Da das Mädchen weder Vater noch Mutter hatte, die auf sie aufpassten, und die Schildkröte nachmittags immer ein Nickerchen hielt, ging sie oft auf den Fischmarkt am Hafen und schaute sich die ernsten Gesichter der Erwachsenen an.«
    »Er hatte Augen wie Gold«, sagte das Mädchen.
    »Ich kenne nur einen Menschen, der Augen wie Gold hat«, erwiderte die Schildkröte.
    Das Mädchen blinzelte verständnislos.
    Athena springt aufgeregt vom Bett auf und ruft: »Das Mädchen! Das Mädchen ist es! Sie hat Augen wie Gold.«
    »Wie schön, dass du das noch weißt«, sagt Anna und packt Athena wieder zurück ins Bett.
    Meine Mutter schaut zu mir rüber, als wollte sie fragen, ob meine Schwester schon bereit sei für das Ende der Geschichte. Ich setze mich aufrecht auf den Boden und umarme meine Knie. Mum denkt, das heißt Ja, und erzählt weiter.
    »Das Mädchen und die Schildkröte beobachten den Mann tagelang. Es sieht so aus, als wollte er bald die Stadt verlassen, jedenfalls kommen dauernd Männer in sein Haus, das schön versteckt im üppigen Buschland am Stadtrand liegt, und tragen seine Siebensachen weg auf ein Schiff. Eine Frau schwirrt auch im Haus herum, doch das Mädchen kann sie nicht deutlich sehen, und ein Junge, der ein bisschen älter ist als sie selbst. Er guckt traurig aus dem ersten Stock zu seinem Vater herunter. Je länger das Mädchen den Mann mit den goldenen Augen beobachtet, desto sicherer ist sie, dass er auch ihr Vater ist.«
    »Er schält die Bananen auch von unten«, sagt sie staunend zur Schildkröte.
    »Und er kaut Araukarienstängel«, sagt die Schildkröte missmutig, denn diese Gewohnheit des Mädchens gefiel ihr gar nicht. Sie hatte gehört, dass einem davon alle Zähne ausfallen. Die Schildkröte wusste nicht, dass Menschen zuerst Milchzähne hatten.
    Am dritten Tag kamen auch die Frau und der Junge mit aus dem Haus, und gemeinsam gingen sie hinunter zum Hafenkai, wo das beladene Schiff schon auf sie wartete.
    »Vergiss die Zwillinge nicht!«, sagt Anna, als meine Mutter kurz Luft holt.
    »Ja, genau. Es gab noch zwei kleine Mädchen, die beide tupfengleich aussahen bis auf die Haarfarbe. Die eine war blond und die andere rothaarig. Sie waren genauso alt wie das Mädchen, das ganz traurig wurde, als es die beiden in ihren schönen blauen Kleidchen sah. Die Schildkröte merkte, dass das Mädchen mit den Tränen kämpfte, und versicherte ihr, dass ihr Kleid aus Eukalyptusblättern viel schöner wäre.«
    »Wenn er jetzt fortgeht, werde ich nie wissen, ob es mein Vater war«, sagte das Mädchen zur Schildkröte.
    Sie beobachteten die Sache weiter, doch die Schildkröte wurde langsam hungrig und fand, das Mädchen könnte ihr wenigstens ein paar Hibiskusblüten anbieten. In dem Moment wurde das weiße Segel gehisst. Es blähte sich majestätisch auf bis in die Wolken hinein, jedenfalls kam es dem Mädchen so vor.
    Die Schildkröte, die schlauer war als das Mädchen, wusste genau, dass der Mann und seine Familie nie wieder zurückkommen würden. Trotzdem scheute sie sich davor, es dem Mädchen zu sagen. Tief in ihrem Herzen wusste die Schildkröte, dass sie dem Mädchen nie eine Familie ersetzen konnte, doch sie liebte es sehr und aß auch gerne Hibiskusblüten, die sie ohne seine Hilfe nicht vom Busch zupfen könnte.
    »Meinst du, er weiß, dass er noch eine Tochter hat?«, fragte das Mädchen.
    »Das Schiff legt jetzt ab.«
    »Er kann doch nicht einfach wegfahren.«
    Das Mädchen blickte aufgeregt über den Kai, dann sah sie der Schildkröte tief in die Augen. Sie wusste, dass die Schildkröte nicht gut schwimmen konnte. Auf dem Wasser aber konnte sie sich treiben lassen, das hatte das Mädchen in der Mulde bei den Waschkesseln oft beobachtet. Sie musste sie nicht lange bitten. Die Schildkröte schob sich die Böschung hinunter zum Ufer und ließ sich ins Wasser gleiten. Dann bedeutete sie dem Mädchen mit einer Kopfbewegung, sich auf ihren Rückenpanzer zu setzen.«
    »Die Schale«, erkläre ich meiner Schwester, die so komisch guckt wie ich damals, als ich das Wort zum ersten Mal hörte.
    »Schafft sie es noch?«, fragt Athena mich, weil sie genau weiß, dass Mum es ihr nicht verraten wird.
    »Warte es ab«, antworte ich.
    »Grandma Deb war auch immer so ungeduldig«, sagt Grandma Anna aus der Ecke. »Am liebsten hätte sie das Ende noch vor dem Anfang gehört. Auch bei Büchern hat sie die letzte Seite zuerst gelesen, um gleich zu wissen, worauf alles hinausläuft.«
    Grandma
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