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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain
Autoren: Courtney Miller Santo
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Urururgroßmutter, das Mädchen aus der Geschichte ist. Sie wurde heute hundertdreiundzwanzig Jahre und hundertvierundneunzig Tage alt. Normalerweise will das sonst niemand so genau wissen, aber heute war ein besonderer Tag, denn sie hat den Weltrekord gebrochen und ist nun der älteste Mensch aller Zeiten. Niemand wurde je älter als sie, jedenfalls nicht nachweislich.
    Mein Freund Jim, der beim Fünfzigmeterlauf immer schneller ist als ich, behauptet, dass Methusalem neunhundertneunundsechzig Jahre alt geworden ist. Aber ich sagte, das zählt nicht, weil man es nicht beweisen kann. Ich schwöre, er hätte mich am liebsten gekillt, als ich meinte, in der Sonntagsschule würden sie nur Mist lernen. Aber stattdessen hat er gesagt, wir machen jetzt einen Wettlauf, und dann hat er mich um volle zwei Sekunden geschlagen und gelacht.
    Manchmal geht es in den Geschichten um Abenteuer, manchmal sind sie bloß albern, aber heute ist die Geschichte traurig. Mama hat sie erst einmal erzählt, damals war ich jünger als Athena heute, und ich kann mich nur daran erinnern, dass die Schildkröte am Ende stirbt. Jetzt habe ich das Ende schon erzählt. Aber eigentlich macht das nichts, ich fand auch die anderen Geschichten schöner, als ich wusste, dass das Wunderland, in dem es nur das Mädchen und die Schildkröte gab, irgendwann unterging.
    Alle unsere Lieblingstiere werden früher oder später mal sterben. Billy hat schon Old Dan und Little Ann verloren, Travis musste sogar Yeller erschießen, und obwohl Wilbur bisher noch nicht zu Schinken verarbeitet wurde, mussten wir uns neulich von Charlotte trennen.
    Die Stimme meiner Mutter ist so gewaltig wie das Meeresrauschen in einer großen Muschel, die man sich ans Ohr hält. Andere Leute bezahlen viel Geld, um sie singen zu hören, meistens in komischen Sprachen. Aber in Englisch klingt ihre Stimme am schönsten, und wenn sie Geschichten erzählt, krabbeln die Wörter tief hinein in meine Ohrmuschel und breiten sich überall aus. Das ist der Trick bei den Muscheln.
    Meine Lehrerin hat gesagt, das Rauschen sei nur eine Verstärkung der Geräusche im Körper, die wir sonst nicht hören: das Rauschen des Bluts in unseren Adern oder unser Herzschlag. So ähnlich hört sich jedenfalls meine Mutter an, wenn sie uns Geschichten erzählt.
    »Außer der Schildkröte hatte das Mädchen keine Familie. Sie erzählte dem Mädchen, es sei in einem großen Kupferkessel auf die Welt gekommen, in dem die Frauen im Dorf Wäsche kochten. Eines Abends war es in der Dämmerung daraus hervorgekrochen, als die Schildkröte gerade von ihren Wanderungen im Gras zurückgekommen war, um sich eine Mulde zum Schlafen zu suchen. In kühlen Nächten suchte sie nämlich die Nähe der warmen Kessel.«
    Grandma Anna beugt sich vor und tätschelt den Arm meiner Mutter. »Die Schildkröte hörte schlecht«, unterbricht sie die Geschichte, »deshalb bemerkte sie das Mädchen erst, als es vor ihr stand. Und vergiss die Hibiskusblüten nicht.«
    Den ganzen Tag über sind Reporter im Haus herumgerannt, die von Anna wissen wollten, wie sie die Welt sieht. »Die Großmutter der Menschheit« haben sie dauernd zu ihr gesagt. Sie hat nur gemeint, dass sich die Dinge um uns herum zwar verändern, aber die Menschen immer gleich bleiben. Dann hat sie gesagt, dass Zeit nur eine Einbildung sei, die wir Menschen brauchen, damit es den Anschein hat, dass im Leben nicht alles auf einmal passiert. »Meine Einbildungskraft ist eben besonders ausgeprägt«, hat sie lächelnd hinzugefügt, und die Leute haben begeistert geklatscht.
    Mum beugt sich zu Anna vor und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Es ist gut, dass meine Grandma da ist, weil meine Eltern viel verreisen, dann kann sie auf uns aufpassen. Dad ist gerade in Deutschland und führt Alcina an der Semper-Oper auf. Sie versuchen, nur abwechselnd weg zu sein, doch Daddy ist in letzter Zeit öfter weg als Mum.
    Mum will lieber hier sein, weil sie nicht weiß, wie viel Zeit Grandma Anna noch bleibt. Auch die beiden anderen Großeltern machen sich Sorgen. Grandma Callie und Grandpa Amrit, der gar nicht mein richtiger Großvater ist, waren auch hier, um mit Anna zu feiern. Sie sind aber gleich wieder zurück nach Pittsburgh, wegen der Forschung, glaube ich.
    Mum macht nun an der Stelle weiter, an der sie unterbrochen wurde, und erzählt uns von einem wichtigen Tag, »als das Mädchen die Schildkröte mit Hibiskusblüten fütterte und ihr von einem Mann erzählte, den sie in der Stadt
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