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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Autoren: Sobo
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Als läge darin eindeutig und ohne jeglichen Zweifel das nächste Jahrhundert.
    Ich schwöre es, für mich war auf den ersten Blick klar, was es war. Ich denke, auch für alle anderen, denn das Gebilde war unverkennbar. Eindeutiger hätte es gar nicht sein können. Diesmal gab es keine verschiedenen Meinungen, das konnte man allen Familienangehörigen ansehen. Dennoch sagte anfangs niemand etwas. Alle schienen auf den alten Mann und dessen Reaktion zu warten.
    Der betrachtete das erstarrte Bleigebilde mit seinen wässrigen Augen. Ich sah an seinem Blick, dass auch er es erkannte.
    »Nussknacker«, sagte er mit leiser, zittriger Stimme.
    Alle anderen nickten. Stella rief plötzlich so laut, dass jeder in der Runde erschrak: »Wie meiner hier!«
    Sie hob mich hoch in die Luft, sodass auch der alte Mann mich ansah. Und wie er mich ansah!
    Sein Gesicht hellte sich auf. Die Augen waren zwei aufgehende Sonnen, hinter denen die Vergangenheit hervorblinzelte. Der alte Mann schien mich zu erkennen.
    Auch bei mir fiel plötzlich der Groschen.
    Wir erkannten uns.
    Das war Wilhelm! Der alte sterbende Mann in diesem Bett war der kleine Wilhelm, der Sohn des Holzschnitzers aus Oberammergau, der mir vor hundert Jahren das Leben geschenkt hatte. Der kleine Wilhelm war die erste Station auf meiner langen, fantastischen Reise durch dieses Jahrhundert gewesen. Und jetzt, wie es schien, auch meine letzte.
    Wilhelms wässrige Augen sahen aus wie zwei blaue Bergseen, die in diesem Moment über das ufer schwappten. Auf jeder Seite rannen Tränen über die Wangen. Ich war mir sicher, dass es Freudentränen waren.
    Auch ich war gerührt.
    Wilhelm streckte seine zitternde Hand nach mir aus. Es wurde ganz ruhig im Raum. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Niemand wagte etwas zu sagen. Alle starrten den alten Mann an. Stella reichte mich ihm.
    Die zitternde Hand des alten Wilhelm griff nach mir. Ich spürte, wie sich seine warme alte Haut um meinen Körper legte, und schaute ihn dabei an. Auch er sah mich an. Er konnte nichts sagen. Dennoch wusste ich, was ihm auf den Lippen lag:
    »Na, alter Nussknacker, siehst ganz schön mitgenommen aus. Wie ich, was? Das hättest du nicht gedacht, dass ich nochlebe, nicht wahr? und dass wir beide uns hundert Jahre später wiedertreffen, als zwei alte Knacker.«
    Nee, das hätte ich wahrlich nicht gedacht.
    Wilhelm lächelte, ganz kurz nur, einen Moment lang. Dann schloss er die Augen.
    In diesem Moment waren draußen Böller zu hören. Leuchtraketen stiegen in den Himmel und pflanzten bunte leuchtende Blumen an das dunkle Firmament vor dem Panoramafenster.
    »Opa?«, fragte Stella, wie man fragt: »Was hast du denn?«
    Er ist tot, hätte ich ihr sagen können. Gestorben, jetzt gerade, in diesem Augenblick, als das neue Jahrtausend das alte ablöste.
    Ich sagte es nicht. Ich konnte nichts sagen. Das musste jemand anders aus der Familie übernehmen. Ich war traurig, zugleich aber dankbar und glücklich, das noch erlebt zu haben.
    Die ganze Nacht hielt die Familie Totenwache beim alten Wilhelm, der mich erstaunlicherweise noch immer in der Hand hielt, als wäre die Kraft noch nicht aus seinen Fingern entwichen.
    Bis die Sonne aufging.

2000, Ammertal, BRD
    Ruhe ist eingekehrt. Alles wirkt friedlich.
    Ein neues Jahrtausend hat begonnen.
    Ich bin gespannt, was noch kommen wird, und sehe optimistisch und lächelnd in die Zukunft.
    Meine Zukunft. Unser aller Zukunft.
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