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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Autoren: Sobo
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in Wirklichkeit war – auch in der Heimat hatte sie noch an mir herumpoliert, dass ich nun glänzte, als wäre ich mit Öl eingerieben. Nur die Löcher hatte sie so gelassen, wie sie waren.
    »Für dich, Stella!«, sagte Amelie und reichte mich ihrer Nichte.
    Es dauerte keine fünf Sekunden, da hatte mich die kleine Nichte vom Papier befreit, hielt mich in der Hand und staunte mit freudigem Gesicht über ihr Weihnachtsgeschenk von der Tante.
    »Danke«, sagte sie und kümmerte sich von nun an den ganzen Abend nur noch um mich. Da konnten Puppen, Buntstifte und dergleichen nicht mithalten. Ich gebe zu, es war eine große Genugtuung für mich.
    Sie sollte auch die nächsten Tage noch anhalten.
    * * *
    Einen Tag vor Silvester verkündete Stellas Vater betrübt, aber so, als hätte er es sich gut überlegt: »Silvester fällt dieses Jahr aus!«
    Der Grund war Stellas Urgroßvater. Der war ziemlich alt und lag seit Längerem schwer krank im Senioren- und Pflegeheim. Das war auch kaum verwunderlich, denn der Urgroßvater war fast hundert Jahre alt. Jeden Augenblick war damit zu rechnen, dass er starb. In Anbetracht dessen war an eine Feier zum Jahreswechsel nicht zu denken.
    »Aber Opa kann doch mitfeiern«, sagte Stella und wollte sich nicht von der lang ersehnten Silvesterfeier abbringen lassen.
    »Warum eigentlich nicht?«, fragte ihre Mutter.
    Dem Vater fielen, auch nach langem Überlegen, keine überzeugenden Argumente mehr ein. Irgendwie wollten die Familien von Stella und Amelie doch nicht ganz auf die Silvesterfeier verzichten. Es war immerhin der Jahreswechsel in ein neues Jahrtausend. Millennium. Gleichzeitig wollten sie den Großvater nicht ausschließen. Also war Stellas Idee, das eine mit dem anderen zu verbinden, eigentlich ideal.
    Die Familien feierten also beim Urgroßvater im Seniorenheim am Fuße der Alpen im Herzen Bayerns. Die ganze Verwandtschaft war gekommen, über zwanzig Personen, die sich in Großvaters Zimmer vor dem großen Panoramafensterdes Seniorenheims versammelten, wo der Opa in seinem Bett aufgerichtet lag.
    * * *
    Um einen großen Tisch herum saßen die Familienangehörigen und übten sich bei Kerzenlicht im Bleigießen, dem alten Silvesterbrauch, mit dem die Zukunft ergründet werden sollte.
    »Die Gebilde, zu denen das flüssige Metall im kalten Wasser erstarrt, sind fantastisch genug, um unsere Neugier zu entfachen«, sagte Amelies Vater und forderte nun alle auf, ihrer eigenen Zukunft auf die Spur zu kommen.
    Das Bleigießen begann. Die unterschiedlichsten Dinge wurden aus dem kalten Wasser gezogen und auf die unterschiedlichste Weise gedeutet. Erkannte jemand in einem Bleiklumpen zum Beispiel eine Hose, widersprach ein anderer besserwisserisch und behauptete, es wäre eine Schere. Streit war vorprogrammiert und wurde auch ausgetragen, ohne Rücksicht auf den Großvater. Kein Wunder, waren Hose und Schere doch grundverschieden. Bedeutete die Hose zum Beispiel, dass man in nächster Zeit ordentlich was auf den Hintern bekam, so verhieß die Schere, dass in nächster Zukunft eine Entscheidung getroffen werden musste.
    Als sich schließlich zwei Onkels während der Bleigießerei böse beschimpften, weil der eine ein Schiff im Blei gesehen haben wollte, der andere hingegen im selben Gebilde ein Kaninchen erkannte, rief Amelies Mutter laut und entschlossen: »Jetzt reißt euch mal zusammen!«
    Sofort verstummten die Streithähne.
    »Jetzt du, Opa!«, sagte Stella in die beängstigende Stille hinein.
    »Opa hat bestimmt keine Lust«, sagte Stellas Vater.
    Aber Stella war uneinsichtig. »Doch, Opa hat Lust!« Sie ließ nicht locker.
    Ich glaubte, ein fast unmerkliches Nicken des alten Mannes wahrzunehmen, was auch den anderen aufzufallen schien.
    »Opa hat genickt, Opa hat genickt!«, rief Stella immer wieder, bis ihr Vater einlenkte und sagte: »Ist gut, Stella, Opa soll auch Bleigießen.«
    Es war natürlich nicht ganz einfach, den Topf mit dem Wasser und das flüssige Blei zu dem alten Mann ans Bett zu tragen, aber irgendwann war auch das geschafft.
    Opa sah mit seinen wässrigen blauen Augen auf den Topf und ergriff dann mit zittriger Hand und der unterstützung eines seiner Enkelkinder den Löffel mit dem flüssigen Blei. Dann kippte er das Blei in den Topf.
    Anschließend fischte der alte Mann, wieder unter Zuhilfenahme seines Enkels, das erstarrte Gebilde aus dem Wasser. Der Enkel legte es auf die weiße Bettdecke. Dann starrten alle auf das Bleistück, als wäre es eine Offenbarung.
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