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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Autoren: Sobo
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der Meister nickte anerkennend. Seine Frau Hedwig, die einen so dicken Bauch hatte, dass es aussah, als trüge sie einen Ballon unter ihrem Rock spazieren, meinte: »Da ist euch mal wieder ein besonders schönes Stück geglückt!«
    Auch alle Kunden, die mich im Laden sahen, blieben stehen. Sie betrachteten mich lange und sagten voller Bewunderung: »Schön, wirklich schön.« Manche schmunzelten auch und ergänzten: »Und lustig sieht er aus!«
    Trotzdem wollte mich keiner haben. Nach drei Monaten stand ich noch immer im Regal und sah der Kundschaft zu, wie sie Garderobenhaken, Salatlöffel und Toilettenpapierrollenhalter kaufte. Niemand blieb noch vor mir stehen, und keiner sagte mehr, wie schön ich sei. Offenbar hatten die Leute andere Dinge im Kopf als Nussknacker. Außerdem hatte sich mein Aussehen verändert. Meine Schönheit verblasste. Staub legte sich auf mich, ließ die Farbe stumpf werden und nahm mir den Glanz.
    Anfangs pries mich Hedwig, die immer dicker wurde, mit marktschreierischen Worten noch bei jenen Kunden an, die aussahen, als könnten sie sich einen Nussknacker leisten.
    »Zu teuer«, sagten aber selbst die Wohlhabenden, schüttelten den Kopf oder zuckten mit den Schultern.
    »Was soll ich mit ’nem Nussknacker?«, entgegneten andere, die weniger Geld in der Tasche hatten. »Ich kann mir nicht mal die Nüsse leisten.«
    »Ja, ja«, meinte dann Hedwig, die jetzt so dick war, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis sie platzte. »Kein Wunder in diesen Zeiten.«
    Alle sprachen von »diesen Zeiten«, die angeblich so furchtbar schlecht waren. Aber die Leute hatten recht. Die Zeiten waren schlecht.
    Doch dem Meister und Hedwig schien es auf einmal gut zu gehen, dass sie strahlten wie die Honigkuchenpferde, als hätten sie alle Ladenhüter auf einmal verkauft, und davon gab es mehr als genug. Jetzt erst fiel mir auf, dass Hedwig nicht mehr dick war. Dafür schrie nun mehrere Stunden am Tag ein kleines rotgesichtiges Baby ohne Haare und Zähne: Wilhelm, der Sohn vom Meister und seiner Frau, der im Winter geboren und gleich darauf getauft worden war.
    »Wie soll er denn heißen?«, hatte der Pfarrer gefragt.
    »Wilhelm!«, hatte Hedwig geantwortet.
    »Wie unser Kaiser!«, hatte der Meister hinzugefügt.
    Immer, wenn Wilhelm endlich schlief, statt zu krakeelen, machten der Meister, Hedwig und der Geselle drei Kreuze. Ich auch.
    Wilhelm wurde größer, aber die Zeiten besserten sich nicht. Die Lebensmittel wurden immer teurer. Als in Wuppertal die erste Schwebebahn der Welt ihren Betrieb aufnahm, der Wissenschaftler conrad Röntgen mit den von ihm entdeckten Strahlen experimentierte, mit denen man Körper durchleuchten, Knochen sehen und Brüche erkennen konnte, und als in Amerika das erste Motorflugzeug in die Luft stieg, drohteder Holzschnitzladen pleitezugehen. Niemand wollte mehr die vom Meister und dem Gesellen so kunstvoll gefertigten Schnitzereien haben. Ich konnte es mit eigenen Augen sehen und am eigenen Leibe spüren. Das Holzschnitzgeschäft lief so schlecht, dass immer weniger Salatschüsseln, Garderobenhaken, Toilettenpapierrollenhalter und Kleiderbügel gekauft wurden.
    »Wo soll das bloß enden? Alles geht zum Teufel«, sagte Hedwig und sah dabei so aus, als wäre sie auf direktem Wege dahin.
    Der Meister schwieg, und Wilhelm brüllte mal wieder, als wäre das Ende bereits gekommen.
    Wieder verging einige Zeit. In Ägypten wurde der größte Staudamm der Welt eingeweiht. In Deutschland schrieben die Schüler – auch der kleine Wilhelm, der inzwischen zur Schule ging  – nach einheitlichen Regeln. Und immer mehr Warenhäuser entstanden, die alles Mögliche zum Kauf anboten, auch Salatschüsseln, Garderobenhaken, Toilettenpapierrollenhalter und Kleiderbügel, also all das, was es auch in dem kleinen Holzschnitzladen gab. Deshalb ging es für den Holzschnitzladen bald nicht mehr weiter. Zumindest nicht für den fleißigen Gesellen. Der Meister musste ihn schweren Herzens entlassen.
    »Das Geld reicht nicht mehr für vier«, sagte er. »Das Geschäft ernährt höchstens noch mich, Wilhelm und meine Frau. Tut mir leid.«
    Dem Gesellen tat es auch leid. Er war so traurig wie noch nie. Am traurigsten aber war Wilhelm, für den der Geselle in seinem kurzen Leben schon wie ein älterer Bruder war. Flehend sah er seinen Vater an und lag ihm bittend in den Ohren, den Gesellen zu behalten.
    »Wenn die Zeiten wieder besser werden, hole ich ihn zurück«, sagte der Meister. »Mehr
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