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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Autoren: Sobo
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Hinter dem Mann blieb er stehen und fragte: »Was wünschen Sie?«
    Der Mann drehte sich erschrocken um, sodass ihm beinaheder Hut vom Kopf rutschte. Er schien überrascht zu sein, dass ein Kind den Laden aufschloss.
    Als der Fremde neben Wilhelm im Laden stand, sagte er: »Ich möchte deinen Vater sprechen.« Als Wilhelm nicht reagierte, fügte er hinzu: »Oder deine Mutter. Sind sie nicht da?«
    »Mama!«, rief Wilhelm die Treppe hinauf, so laut er konnte.
    »Was ist denn?«, kam es zurück.
    »Ein Mann will dich sprechen!«
    »Ein Mann? Moment, ich komme.«
    Ein paar Sekunden später stand Hedwig vor dem Fremden und erkundigte sich: »Was kann ich für Sie tun?«
    »Sie für mich nichts. Ich für Sie.«
    Hedwig blickte verwirrt. Wilhelm ebenso. Auch ich verstand nur Bahnhof.
    »Sie haben gewonnen!«, sagte der Mann.
    »Gewonnen?«, fragte Hedwig. »Ich?«
    »Ja! Das heißt, eigentlich Ihr Mann. Ist er da?«
    Hedwig brach in Tränen aus. Die Miene des Fremden verdüsterte sich, und er sagte mit belegter Stimme: »Tut mir leid, aber so sind nun mal die Bestimmungen. Nur Ihr Mann Wilhelm kann die Reise antreten.«
    Was für eine Reise? , fragte ich mich.
    »Wilhelm?«, fragte Wilhelm erstaunt.
    »Wilhelm ist nicht mein Mann«, sagte Hedwig verdutzt. »Wilhelm …«
    »… bin ich!«, sagte Wilhelm.
    »Du?« Der Mann überlegte. Dabei zeichneten sich auf seiner Stirn tiefe Falten ab. »Na, wenn das so ist«, sagte er dann, »ist es dein Gewinn und deine Reise. Du weißt doch, was ein Zeppelin ist?«

1908 – 1911, Friedrichshafen, Echterdingen, Deutschland
    Wilhelm und ich staunten. So etwas hatten wir noch nie gesehen.
    »Sieht aus wie eine aufgeblasene Zigarre«, sagte Wilhelm beim Anblick des Luftschiffs. »Kann das Ding wirklich fliegen?«
    »Keine Angst, das fliegt schon«, sagte ein Mann mit strubbligem Bart, der in einer verschlissenen Uniform vor der kleinen Reisegruppe stand.
    »Das ist der verrückte Graf«, tuschelten ein paar Leute hinter dem Rücken des Mannes. »Der Erfinder des Luftschiffs.«
    Der Graf grinste, wobei sein Bart sich seltsam verzog. »Jedenfalls ist es schon mal geflogen. Vor acht Jahren das erste Mal. Allerdings nur achtzehn Minuten. Aber jetzt wird es wieder fliegen. Einen ganzen Tag lang. Und Sie, meine Damen und Herren, haben die Ehre, mitzufliegen.«
    Viele Leute waren es nicht. Vielleicht zwanzig Personendrängten sich jetzt in die Gondel des Luftschiffs, die unter einem Gerüst hing, das von einer Leinwand umspannt war.
    Auch Wilhelm saß kurz darauf in diesem lenkbaren Koloss, mit schwitzenden Händen und Angst im Nacken. Es war das erste Mal, dass er von zu Hause weg war. Zwar nur für einen Tag, aber er war ganz alleine. Na ja, ganz alleine nun auch wieder nicht. Ich war bei ihm, wie immer. Ich spürte, wie seine Hände sich fest um meinen Bauch klammerten, als jemand plötzlich laut brüllte: »Luftschiff hoch!«
    Und tatsächlich, das Luftschiff wurde von den Masten gelöst und stieg langsam vom Boden auf. Motoren wurden angeworfen. Die Propeller drehten sich. Das Luftschiff setzte sich in Bewegung, gewann immer mehr an Höhe und schwebte haushoch über dem Bodensee.
    »Na, was habe ich gesagt!« Der verrückte Graf, der sich allen als Graf Ferdinand von Zeppelin vorstellte, schien zufrieden. »Fliegt es, oder fliegt es nicht?«
    »Es fliegt!«, riefen alle Passagiere wie aus einem Munde.
    Und wie lange fliegt es? , fragte ich mich, denn ich hatte meine Zweifel. Ob andere sich das auch fragten?
    Auf jeden Fall starrten alle in die Tiefe und bewunderten den sagenhaften Blick, als wäre die Zeit hier oben knapp und müsste umso mehr ausgekostet werden. Manch »Oh!« und »Ah!« und »Wunderbar!« drang aus einem der vor Staunen offen stehenden Münder, so atemberaubend war der Ausblick. Eine Frau schien beinahe ohnmächtig zu werden. Sie taumelte und musste sich auf den Boden legen. Auch mir wurde ganz schummrig und ein bisschen schlecht.
    »Von oben sieht die Welt viel schöner aus«, sagte Wilhelm. »Guck mal die Häuser. Wie winzig!«
    Tatsächlich. Das waren keine Häuser, das waren Streichholzschachteln. Wie man darin nur wohnen kann! , ging es mir durch den Kopf.
    »Und erst die Menschen! Wie Ameisen!«, sagte Wilhelm.
    Er hatte recht: Ameisen in Streichholzschachteln. Nur wir im Zeppelin hatten noch immer dieselbe Größe wie zuvor. Der Graf, der jetzt neben uns stand, blies die Backen auf und strahlte, dass seine Wangen wie polierte Äpfel aussahen.
    »Von hier oben
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