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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Autoren: Sobo
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den Mädchen vorbei, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Sie hatten schwere Taschen umgehängt, einen Rucksack. Einer trug eine Sporttasche. Auch unter ihren langen Mänteln schienen sie irgendetwas verborgen zu haben. Sie trugen Stiefel, und einer hatte eine nach hinten gedrehte Baseballkappe auf dem Kopf.
    »Scheiße, was machen die?«, fragte Amelie, während sie und Jessy sich vom Schulgebäude entfernten.
    Sie sahen den beiden Jungs noch immer hinterher. Diese stießen gerade die Glastür am Eingang auf und betraten das Schulgebäude.
    * * *
    Amelie und Jessy blieben am Parkplatz stehen und beobachteten die Highschool in einer Mischung aus Neugierde und Aufgeregtheit. Irgendetwas stimmte nicht. Es dauerte nicht lange, als plötzlich ein Schuss aus dem Innern der Highschool zu hören war. Amelie und Jessy erschraken und zuckten zusammen.
    »O Gott!«
    Weitere Schüsse folgten, auch Detonationen.
    Andere Schüler kamen jetzt in wilder Flucht aus dem Schulgebäude gerannt, als ginge es um ihr Leben. Viele schrien, andereweinten. Ein unbeschreibliches Chaos entstand, während im Gebäude noch immer geschossen wurde.
    Die Schulsirene heulte. Polizeifahrzeuge waren zu hören. Polizisten mit Maschinengewehren und Kampfwesten tauchten auf und umstellten das Gebäude.
    Rauch war zu sehen. Und immer wieder hörte man Schüsse peitschen, während im Innern der Schule Grauenvolles geschah.
    * * *
    Amelie flog zwei Tage später zurück nach Deutschland.
    Ich stand in der Lufthansamaschine am Fenster und schaute hinaus. Unter mir war der Atlantik zu sehen. Erinnerungen wurden wach. Die Vergangenheit schob sich in winzigen Bruchstücken zurück in mein Gedächtnis. Vor fast genau siebenundachtzig Jahren war ich von der als unsinkbar geltenden Titanic in den Atlantik gestürzt. Ich war um mein Leben geschwommen und getaucht. Jetzt, so viel später, blickte ich auf dieses Meer hinunter.
    Es war ein schöner Anblick, wenngleich viele Erinnerungen weniger schön waren. Der Atlantik, vom wolkenlosen Himmel aus betrachtet, erschien mir wie ein riesiges blaues Badetuch mit hineingewebten dezenten Mustern.
    Amelie saß neben mir und schaute abwechselnd aus dem Fenster und auf ein aufgeschlagenes Notizbuch, in das sie immer wieder mit einem Kugelschreiber etwas hineinkritzelte. Vermutlich notierte sie ihre Eindrücke, ihre Empfindungen über diese letzten grauenhaften Tage in Amerika. Bei dem Amoklauf in der Schule waren dreizehn Schüler und eine Lehrkraft getötet worden. Vierundzwanzig Menschen wurdenzum Teil schwer verletzt, und noch viel mehr erlitten einen Schock und waren für den Rest ihres Lebens gezeichnet. Die beiden siebzehnjährigen Attentäter erschossen sich selbst. Die Schule glich nach dem Attentat einem Kriegsgebiet.
    Ich warf einen Blick auf die Seite in Amelies Notizbuch.
    Ich bin jetzt ungefähr 10 000 Meter über der Erde und dennoch fest verankert mit den Vorkommnissen an der Highschool. Ich sitze angeschnallt und kreidebleich in der Lufthansa-Maschine und hoffe, mich nicht übergeben zu müssen. Körperlich bin ich zwischen Himmel und Erde, und gefühlsmäßig taumle ich zwischen Gestern und Morgen. In mir dreht sich alles. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht, und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich bin froh, wieder nach Hause zu kommen, aber auch traurig, meine Freundinnen unter solchen Umständen verlassen zu müssen. Bis dahin müssen ich und mein Flieger aber noch ein paar Wolken hinter uns lassen. Das Papier starrt mich an, als wären es blinde, leere Augen, verständnislos und dennoch um Buchstaben bettelnd. Vielleicht hilft es mir, wenn ich darüber schreibe, was geschehen ist. Hier oben, hoch über den Wolken, wo die Sonne ungehindert scheint, mit Blick aus dem Fenster, der einem so klar vorkommt wie durch eine Lupe, ist der beste Ort und der beste Zeitpunkt …
    Womöglich hat sie recht , dachte ich. Und wie es aussah, hatte sie auch noch ein paar Stunden Zeit.
    Ich gab mich dem Blick hin und träumte ins Blaue hinein. Von besseren und erfreulicheren Zeiten zum Ende des Jahrhunderts.

1999 – 2000, Ulm und Ammertal, BRD
    Alle waren um den mit brennenden Kerzen, bunten Kugeln und Lametta geschmückten Weihnachtsbaum versammelt, unter dem die verpackten Geschenke lagen. Um meinen Körper war ein juckendes, mit einer Lasur beschichtetes Papier gewickelt.
    Amelie hatte es nicht nur in der Werkgruppe in Columbine geschafft, mich ein wenig aufzuhübschen, um mich jünger aussehen zu lassen, als ich
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