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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Autoren: Sobo
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20. April. Das Kalenderblatt zeigte ein Foto von einer amerikanischen Kleinstadt im Frühjahr. Und das Gesicht, in das ich blickte, gehörte einem Mädchen, vielleicht fünfzehn Jahre alt, das sich diebisch über mich freute. Eine solche Freude machte natürlich auch mir Spaß. Und doch hatte ich plötzlich ein ungutes Gefühl.
    Neben dem Gesicht tauchte ein weiteres auf, schmal, mit einer Brille und von blonden Haaren eingefasst. Es schien sich aber nicht ganz so über meinen Anblick zu freuen.
    »Was willst du denn mit dem?« Es klang belustigt, als wäre ich ein Witz, ein ziemlicher schlechter Witz.
    »Der kommt von da, wo auch ich herkomme.« Das andere Mädchen ließ sich durch die Reaktion nicht beeindrucken.
    »Deutschland?«
    »Ja. Aus Oberammergau, wie ich.« In ihrer Stimme schwang Stolz mit.
    »Woher weißt du das?«
    »Das sieht man. Die werden da geschnitzt. Der hier scheint sogar sehr alt zu sein.«
    »So sieht er auch aus.« Das Mädchen lachte, was das andere Mädchen aber nicht beeindrucken konnte.
    »Ein bisschen Schmirgelpapier, ein bisschen Farbe, und schon ist er wieder fast wie neu.«
    Das andere Mädchen lachte noch mehr, griff sich belustigt an die Stirn.
    »He, das ist ein vergammeltes Stück Holz, das früher vielleicht mal was anderes war. Meinetwegen auch ein Nussknacker, aber jetzt …«
    Sie nahm mich in die Hand, wiegte mich hin und her, als wäre ich zu nichts mehr zu gebrauchen, höchstens zu einem Wurfgeschoss.
    Dann lachte sie wieder übers ganze Gesicht.
    »Der kann nicht mal mehr Nüsse knacken!«
    Immer wieder das Gleiche , dachte ich. Mein Leben lang muss ich mir anhören, dass ich keine Nüsse knacken kann. Aber ist das denn so schlimm? Ist nur ein Vogel, der fliegen kann, ein Vogel? und was bitte schön ist dann mit einer Atlantisralle?
    »Na und?«, konterte das andere Mädchen. »Es gibt andere Verwendungen für einen Nussknacker.«
    »Ja, als Staubfänger! Oder als Brennholz!«
    »Nein, als Talisman!«
    »Talisman? Wem soll der denn Glück bringen?« Sie zeigte herablassend auf mich.
    »Weiß nicht, vielleicht meiner Nichte.«
    »Deiner Nichte?«, fragte das Mädchen ungläubig. »Du willst deiner Nichte dieses erbärmliche Stück Holz schenken?«
    »Ja. Zu Weihnachten, wenn du es genau wissen willst.« Das Mädchen gab sich unbeugsam, was mir natürlich besonders gut gefiel. »Vorher muss ich den Nussknacker aber noch ein bisschen restaurieren.«
    »Ein bisschen?«, kam gespielt überrascht von der Freundin. »Das ist eine Lebensaufgabe, Amelie! Wie lange bist du jetzt noch hier, hm?«
    »Das weiß du doch ganz genau. Bis zum Ende des Schuljahrs.«
    »Na eben.«
    »Wie, na eben?«
    »Das reicht doch nie.«
    »Bei euch in der Schule gibt es doch eine Holzwerkstatt. Ich nehme ihn einfach mit in die Werkgruppe.«
    »Dafür brauchst du keine Holzwerkstatt, dafür brauchst du eine Spezialabteilung für hoffnungslose Fälle.«
    »Bis Weihnachten sind es noch ein paar Monate. Bis dahin wird er nicht wiederzuerkennen sein.«
    »Jessy, Amelie! Kommt endlich, wir müssen los!«, rief eine resolute Frauenstimme vom unteren Stock des Hauses zu den beiden Mädchen hinauf. Der Streit war augenblicklich beendet. Die beiden nahmen ihre Schultaschen – Amelie zudem noch mich – und stiegen die Treppe hinunter.
    * * *
    Es war ein schöner Morgen. Die Sonne schien, Vögel zwitscherten.
    Jessys Mutter fuhr uns mit ihrem Chevrolet zur Schule und ließ uns am Parkplatz des Schulgeländes aussteigen.
    »Bis heute Abend.«
    »Ja.«
    »Tschüss.«
    Der Chevrolet wendete und fuhr in die Richtung davon, aus der er gekommen war. Auch andere Schüler wurden zur Schule gebracht und trotteten verschlafen und lustlos über die Grünfläche und die Wege auf die Flachbauten zu, während die Schulglocke zur Eile rief.
    Für mich stellte sich schnell heraus, dass Amelie in dieser amerikanischen Kleinstadt nur vorübergehend zur Schule ging. Seit Beginn des Schuljahrs war sie Austauschschülerin. Sie kam aus Deutschland, wohnte bei Jessy und ihren Eltern und ging mit Jessy in eine Klasse. So auch an diesem Morgen.
    * * *
    8.00 Uhr, Sport.
    In den umkleideräumen herrschte ein Heidenlärm. Es klang nicht nach umkleideraum, sondern nach Bahnhofshalle, und es roch nach Parfüm, Haarspray, Deodorant und sonstigen künstlichen Geruchsstoffen. Die Mädchen schlossen ihre Sachen in Schließfächer ein und zogen ihre Sportkleidung an. Es waren bunte, knapp sitzende Shorts und enge Trägershirts. Sie sahen
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