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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis
Autoren: Andreas Eschbach
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würde später gestehen, von der Ansprache des Pfarrers nicht das Geringste mitbekommen zu haben. Er hatte stattdessen immer wieder verstohlen auf seine Armbanduhr gesehen und sich gefragt, ob vielleicht etwas mit ihr nicht in Ordnung war; die Zeit konnte doch unmöglich so langsam vergehen.
    Während der Pfarrer fortfuhr zu erzählen, was für wunderbare Menschen die drei Verstorbenen gewesen waren, und alle mit ernster Miene lauschten, waren die Gedanken von Hans-Olof Andersson schon bei dem, was danach kommen würde. Er würde den Witwen die Hände schütteln und sein Beileid aussprechen müssen, und ihm graute vor diesem Moment. Aber es führte kein Weg daran vorbei. Die drei Toten waren Kollegen gewesen, man kannte einander von Feiern, Empfängen und anderen Anlässen. Mehr noch, eine der Frauen hatte sich ebenso rührend wie unerwartet um seine Tochter Kristina gekümmert, als vor vier Jahren Hans-Olofs Frau Inga bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
    Eine Schuld. Und er hatte keine Ahnung, wie er sie abtragen sollte, jetzt, wo es möglich und nötig gewesen wäre. Er wusste nicht einmal, was er sagen sollte. Es war alles so plötzlich gekommen. Alles kam immer so plötzlich.
    Hans-Olof erklärte später, er habe sogar regelrecht so etwas wie Ärger auf die Verstorbenen verspürt. Was hatten die drei eigentlich in Italien zu suchen gehabt? Mitglieder der Nobelversammlung hatten Anfang Oktober in Stockholm wahrhaftig genug zu tun und auf alle Fälle Wichtigeres!
    Er erzählte auch, er habe sich, wie einer inneren Stimme folgend, in genau dem Moment umgedreht, in dem ihn jemand direkt ansah. Bei diesem Jemand handelte es sich um Bosse Nordin, der drei Reihen weiter hinten auf einem Platz ganz außen unter den Glasfenstern saß und in eine flüsternde Unterhaltung mit einem Mann vertieft war, den Hans-Olof nicht kannte. Hans-Olof hatte den Eindruck, dass die beiden ihn angesehen, aber den Blick in genau dem Moment abgewendet hatten, als er zu ihnen hinüberschaute.
    Bosse war so etwas wie Hans-Olofs bester Freund am Institut, falls in der in hohem Maß von Konkurrenzdenken geprägten Atmosphäre des Campus so ein Begriff überhaupt angebracht war. Hans-Olof hätte bereitwillig eingeräumt, dass das Gefühl der Nähe auch einfach daher rühren mochte, dass sich ihre Büros auf beiden Seiten des Von-Euler-Wegs genau gegenüberlagen und sie einander durchs Fenster sehen konnten, wenn sie miteinander telefonierten. Es ging bei diesen Gesprächen selten um Fachliches – Bosse war Zellphysiologe, Hans-Olof Pharmakologe; zwar gab es zwischen beiden Fachgebieten Berührungen, nicht jedoch, was ihre jeweiligen Forschungsrichtungen anbelangte. Sie unterhielten sich eher über Freizeitaktivitäten, Institutsklatsch und dergleichen. Die Stimme des anderen im Ohr, seine Gestalt umrahmt von Zimmerpflanzen und hinter halb spiegelndem Glas, so standen sie einander oft gegenüber, wenn sich einer von ihnen über die Beurteilung eines Studenten klar werden wollte, Bosse einen derben Witz oder einen Börsentipp loswerden musste oder Hans-Olof einen Erziehungsratschlag brauchte: Bosse hatte sage und schreibe vier Töchter, von denen zwei schon verheiratet waren, und alles erlebt, was ein Vater mit Töchtern erleben konnte.
    Hans-Olof überlegte, wer der Mann sein mochte. In Bosses Büro hatte er ihn noch nie gesehen, seine seltsam fischartigen, weit auseinander stehenden Augen wären ihm aufgefallen. Bosse hörte ihm mit reglosem Gesicht aufmerksam zu, nickte nur ab und an oder stellte eine kurze Frage. Vielleicht ging es um eines von Bosses geheimnisvollen Geschäften. Hans-Olof wusste nichts Genaues, aber irgendwelche Nebengeschäfte musste Bosse machen, bei dem Lebensstil, den er führte. Ein Haus in der besten Gegend von Vaxholm, immer das neueste Modell, das VOLVO herausbrachte, Urlaube in Thailand oder Malaysia – dass das Gehalt eines Universitätsprofessors dafür nicht ausreichte, wusste Hans-Olof, und dass Bosse alles mit Börsenspekulationen finanzierte, glaubte er einfach nicht. Dazu hatten sich zu viele der Tipps, mit denen er hausieren ging, als Windeier entpuppt.
    Hans-Olof bemerkte, dass eine ältere Frau, die, wie er sich vage erinnerte, in der Studentenverwaltung arbeitete, seine neugierigen Seitenblicke mit deutlicher Missbilligung beobachtete, und sah wieder nach vorn. Er sagte sich, dass es ihn im Grunde genommen nichts anging, was Bosse trieb. Der Pfarrer schien zum Ende gekommen zu sein, der Chor
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