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Der Neid eines Fremden

Der Neid eines Fremden

Titel: Der Neid eines Fremden
Autoren: Caroline Graham
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möglich hinausgezögert, ohne das Essen kalt werden zu lassen. Leo hatte häufig unter Streß gestanden und während des Essens über seine Sorgen geredet. Manchmal bedrückte ihn die Haltung seiner Kollegen; trotzdem sie in seinem Alter waren, wirkten sie bereits bitter und abgebrüht. Doch meist ging es um einen sterbenen Patienten: »Sie sehen einen an, als könnte man noch irgend etwas für sie tun. Als könnte man ihren Tod verhindern. Die Dinge ungeschehen machen. Als wäre man Gott. In solchen Momenten weiß ich nie, was ich sagen soll.« Da sie ihn liebte, zeigte sie sehr viel Mitgefühl, doch oft fiel es ihr schwer, seinen Worten zu folgen. Sobald sie sein hoffnungslos lichter werdendes Haar betrachtete und beobachtete, wie er mit seinen schlanken, aber kräftigen Fingern gestikulierte und die Gabel umfaßte, wurde ihr Verlangen nach seinem Körper so stark, daß ihr kaum noch Energie für etwas anderes blieb. Sechs Wochen lang hatte er auf der Kinderstation mit Patienten gearbeitet, die an einer tödlichen Krankheit litten, und damals hatte sie geglaubt, er würde aufgeben. Von einem Treffen zum nächsten schien er blasser, älter und erschöpfter zu werden. Aber damals hatten sie bereits gewußt, daß sie heiraten und Kinder haben würden, und es war ihr schwer gefallen zu verstehen, wieso ihm das keinen Trost bereitete.
      Jetzt stand er, nach einem teuren, unaufdringlichen Parfüm riechend, in seinem vornehmen Nadelstreifenanzug vor ihr. Er hatte um die zwanzig Pfund zugenommen, ohne daß es ihm abträglich wäre. Seine Schultern waren etwas breiter, und um die Hüfte war er fülliger geworden, das war alles. Guy kam aus der Diele die Treppe hinunter; er trug einen Anorak und hatte einen Sportbeutel in der Hand. Als Leo nach seiner Aktentasche griff, streckte Rosa impulsiv die Hand aus: »Leo -«
      »Hm?« Er war zerstreut, in Gedanken bereits im Krankenhaus, doch er hielt inne und sah sie erwartungsvoll an. Rosa fühlte sich unsicher. Sie hatten beide wenig Interesse an erinnerungsträchtigen Gesprächen, denn eigentlich waren sie in ihrer gegenwärtigen Situation sehr glücklich. Zudem warteten die Kinder. »Wird es heute spät werden?«
      »Ich glaub' nicht. Ich ruf dich an. Komm schon, du Riesenbaby.« Gemeinsam mit Guy ging er die Treppe hinauf. Gewöhnlich traf sich Guy um halb vier mit Kathy an deren Schule, und Rosa holte die beiden dort ab. Sie hörte ihn mit seinem Vater reden.
      »Warum haben wir keinen Porsche, Dad?«
      »So wie du ißt, können wir uns glücklich schätzen, daß wir nicht auf Fahrräder umsteigen müssen.«
      »Mervyns Vater hat einen Porsche.«
      »Mervyns Vater ist ein Gauner.«
      »Ist er nicht - überhaupt nicht! Er ist ein Unternehmer. Dick im Geschäft!«
      Als die Haustür ins Schloß fiel, erschienen wieder Rauten farbigen Lichts auf dem Dielenteppich. »Iß deinen Toast auf, Schatz. Ich bin gleich wieder da.« Rosa rannte in das große Wohnzimmer im Erdgeschoß hinauf. Der Citroen stand quer gegenüber auf einem Parkplatz für Anlieger. Sie beobachtete, wie Leo, nachdem er nach rechts und links gesehen hatte, mit dem Arm um die mageren Schultern seines Sohnes die Straße überquerte. Er öffnete die Beifahrertür, und Guy warf erst seinen Turnbeutel, dann sich selbst in das Polster. Leo nahm auf dem Fahrersitz Platz. Keiner von beiden drehte sich um. Warum sollten sie auch? Gewöhnlich stand sie nicht da und winkte, und sie wußte auch nicht, warum sie es heute morgen tat. Einen Moment lang versuchte sie, den Grund herauszufinden. Wieso sollte sie nach langen Jahren ruhiger Zufriedenheit ihr eigenes Glück plötzlich so eindringlich empfinden? Eigentlich neigte sie nicht zur Selbstbeschau, und ihr mit Arbeit und Familienpflichten ausgefüllter Alltag ließ ihr ohnehin wenig Zeit zum Nachdenken. Vieles nahm sie als Selbstverständlichkeit hin. Leos Beständigkeit, Gesundheit und Wohlergehen ihrer Kinder, ihre eigene Gesundheit und ihr Durchhaltevermögen, die finanzielle Sicherheit. Was würde geschehen, wenn es diese Dinge nicht mehr gäbe? Tagtäglich wurde das Lebensgefüge anderer Menschen auseinandergerissen, warum sollte sie dagegen immun sein? Ihre frühere Zufriedenheit kam ihr jetzt wie dumme Selbstgefälligkeit vor. Sie streckte die Hand aus und berührte das glänzende, weiße Holz des Fensterrahmens.
      »Mom?« Sie sah auf die Standuhr. Noch fünfzehn Minuten bis zum Zahnarzttermin. Der Alltag hatte begonnen, nahm
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