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Der Neid eines Fremden

Der Neid eines Fremden

Titel: Der Neid eines Fremden
Autoren: Caroline Graham
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ihre geschäftige, nervlich angespannte Vorgesetzte es schätzte, wenn an ihrem Arbeitsplatz Ruhe herrschte.
      »Guten Morgen, Mrs. Gilmour. Ein schöner Tag heute, nicht wahr?« Rosa hatte es aufgegeben, Sonia davon zu überzeugen, sie beim Vornamen zu nennen. »Dieser Hosenrock ist einfach umwerfend. Er ist doch neu, oder?«
      Außer dem Hosenrock trug Rosa eine cremefarbene Seidenbluse, eine hellgraue Kaschmirjacke mit einem zimtfarbenen, geflochtenen Ledergürtel, eine Perlenkette und rötlichbraune Stiefel. Ihr langes Haar, das sie nachlässig mit einem elfenbeinfarbenen Kamm auf dem Kopf festgesteckt hatte, begann sich bereits zu lösen.
      »Nein. Ich habe ihn letztes Jahr im Winterschlußverkauf bei Harvey Nichols erstanden.« Sie griff nach dem Brieföffner und nahm den Postberg in Angriff, der auf ihrem Schreibtisch lag. Sie hatte Sonia zu überreden versucht, in der Redaktion zu arbeiten, war sich zugleich aber sehr wohl bewußt, daß die anderen Journalisten Sonia dazu ermutigten, in ihrem Raum zu arbeiten. Zur Zeit hatten sich die Journalisten durchgesetzt.
      »Ich liebe diese Jahreszeit, Sie nicht? Diese Herbsttage haben so etwas Frisches an sich, nicht wahr? Man möchte geradezu in sie hineinbeißen. Morgens springe ich aus dem Bett...«
      Morgens, ja? Gütiger Himmel, dachte Rosa, ermahnte sich aber zugleich, nicht gehässig zu werden. Mit dem Brieföffner konnte sie ziemlich viel Lärm machen, wenn sie ihn auf den Schreibtisch sausen ließ. Nach kurzer Zeit bemerkte sie, daß Sonia sich wieder ihrer Maschine zugewandt hatte, ihre hageren, von einem wenig attraktiven Ausschlag verzierten Handgelenke ausstreckte und zu tippen begann. Doch sie hörte nicht auf zu reden. Der Raum war erfüllt von unsäglich kitschigen Phrasen, die nur vom dumpfen Geräusch des Brieföffners unterbrochen wurden. Das alles wäre ja nicht so schlimm, dachte Rosa, wüßte sie nicht, daß ihre Sekretärin sie nicht mochte.
      Sonia war zwar ehrgeizig, schwieg sich über ihre Pläne jedoch aus. Ihre jetzige Position erachtete sie lediglich als ein Sprungbrett für ihre Karriere, war jedoch entschlossen, ihre Arbeit gründlich zu machen, solange sie darauf angewiesen war. Scharfsinn und Humor waren ihr gänzlich fremd, sie war nicht sehr intelligent und wäre erstaunt und erschüttert gewesen, hätte sie gewußt, wie durchschaubar ihre Zukunftspläne waren. Rosa, die die bemitleidenswerten Waffen sah, mit denen sich Sonia dafür rüstete, die schwindelnden Höhen der Verwaltungshierarchie zu erklimmen, betrachtete sie mit einer Mischung aus Mitleid und Verärgerung. Die allmorgendliche Verärgerung gewann die Oberhand. Sie unterbrach Sonia mitten in der volltönenden Beschreibung des gestrigen Sonnenuntergangs.
      »Bei den meisten dieser Briefe genügt eine Standardantwort, Sonia. Die Kennziffer habe ich jeweils angeheftet. Den Rest erledige ich zuhause, und am Freitag bringe ich das Band mit.«
      »Soll ich die Standardbriefe wie gewöhnlich unterschreiben, Mrs. Gilmour?«
      »Ja, das wäre nett.«
      Es trat eine unangenehme Pause ein. Briefe waren eine heikle Angelegenheit. Vor einigen Wochen hatte Rosa, der es zur Gewohnheit geworden war, einen ganzen Stapel Briefe auf einmal zu unterschreiben, ohne sie zu lesen, einen Absatz entdeckt, der ihr unbekannt vorgekommen war. Sie hatte den Brief überprüft und sich dann den ganzen Stapel vorgenommen. Fast allen Briefen war eine kurze Notiz, eine Art Moralpredigt, hinzugefügt worden, die die Adressaten darauf aufmerksam machte, daß sie sich ihre Schwierigkeiten möglicherweise selbst zuzuschreiben hätten, sich zusammenreißen und etwas mehr Eigeninitiative beweisen sollten. Wie so viele sentimentale Menschen, strömte Sonia vor Freundlichkeit nicht gerade über. Es war zu einer äußerst unangenehmen Auseinandersetzung gekommen: Sonia hatte tränenreich darauf bestanden, daß man sie bei ihrem Bewerbungsgespräch dazu ermutigt hätte, eigenverantwortlich zu arbeiten, und Rosa hatte darauf erwidert, daß sie, so gern sie sich auch Sonias Vorschläge anhörte (das stimmte nicht), erwartete, daß die von ihr diktierten Briefe mit einem gewissen Maß an Korrektheit niedergeschrieben würden.
      Sie stopfte etwa neun Briefe in ihre Aktentasche und ließ drei, jeweils mit einer Papierklammer zusammengeheftete Stapel auf ihrem Schreibtisch zurück. Der erste bestand aus Briefen von Leuten, die glaubten, sie verteile Eintrittskarten für eine Karriere beim
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