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Der Neid eines Fremden

Der Neid eines Fremden

Titel: Der Neid eines Fremden
Autoren: Caroline Graham
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keine Ahnung, was nach dem eigentlichen Tod geschehen würde. Keine Pläne. Obwohl er sich ihre letzten Qualen auf hunderterlei Weise vorgestellt hatte, war es ihm unmöglich, irgendeine Szene heraufzubeschwören, die danach stattfinden würde. Sie war so sehr mit seinem Leben verknüpft, daß es ihm fast vorkam, als würde er nach ihrem Tod ebenfalls nicht mehr existieren können.
      Er sah auf seine Uhr. Halb acht. Noch zehn Minuten, und er würde losgehen. Camden Town war eine Station der nördlichen U-Bahn-Linie. Er würde nicht einmal umsteigen müssen.
     
    Obwohl sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, war sie nicht müde. An Leos Rücken geschmiegt, hatte sie in einem Zustand der Leblosigkeit dagelegen. Sie hatte kaum Gefühle, war weder ängstlich noch wütend gewesen; es war ihr vorgekommen, als würde es nie wieder Tag werden. Leo war gegen drei Uhr aufgewacht und hatte sie zu überreden versucht, eine Tablette zu nehmen, doch sie hatte abgelehnt. Jetzt saßen sie über ihren Kaffeetassen und sahen die Times und den Guardian durch.
      »Es scheint, als hätte sich die Presse zur Mitarbeit bereit erklärt. In keiner von beiden ist irgend etwas zu finden.«
      »Und in den Acht-Uhr-Nachrichten ist auch nichts gekommen.« Rosa streichelte Madgewick, der sich ausgiebig räkelte, seine Beine in ihrem Schoß steif ausstreckte, sie wieder anzog und unter seinem Bauch kreuzte. Ihre Freudenschreie und Umarmungen hatte er am vorangegangenen Abend heiter entgegengenommen, war aber eindeutig verärgert gewesen, als sie versucht hatte, ihm den großen Fischkopf aus dem Maul zu ziehen, bevor sie ihn zum Wagen brachte. Jetzt spielte er den Eingeschnappten und weigerte sich zu schnurren, obwohl sie natürlich nicht wissen konnte, ob er ihr den plötzlichen Angriff auf sein eisernes Füllhorn übelnahm oder ihr die Achtlosigkeit vorwarf, die dazu geführt hatte, daß er überhaupt entführt werden konnte.
      »Die Kinder werden sich freuen, daß er wieder da ist. Hast du Mrs. Holland gesagt, wann du sie abholen wirst?«
      »Ich hab' ihr gesagt, die Polizei würde gegen neun Uhr hier sein. Sie nimmt die beiden mit zur Schule, und da hol' ich sie dann ab. Sie hat mit dem Direktor von St. Christopher's geredet, so daß er weiß, wieso Guy nicht zur Schule kommt.«
      »Du wirst doch sicher bei meiner Mutter zu Mittag essen, oder, Leo? Die Fahrt nach Kent ist schrecklich lang - zumal, wenn du zwischen Hin- und Rückfahrt keine Pause einlegst.«
      »Du bist wohl verrückt, Rosa. Natürlich werde ich nicht zum Mittagessen bleiben. Ich will so schnell wie möglich zu dir zurückkommen. Ich denke immer noch, daß sie im Zug in Sicherheit wären. Sie könnten mit einem Sicherheitsbeamten fahren. Schließlich ist Guy schon fast dreizehn. Und ihre Großmutter könnte sie am Bahnhof abholen.«
      »Nein. Darüber haben wir gestern abend schon geredet. Ich will, daß du sie nicht aus den Augen läßt, bis du sie sicher bei ihr abgeliefert hast. Da sie die letzte Nacht bereits nicht zuhause verbracht haben, werden sie ohnehin schon verängstigt sein, ohne mit einem Fremden in ein Zugabteil eingesperrt zu sein.«
      Er wußte, daß sie recht hatte. Es war nicht so, als würde er seine Kinder nicht lieben; er hatte jetzt einfach nur erkannt, daß ihm seine Frau über alles andere ging. Nie zuvor hatte er versucht, seine Zuneigung zu den verschiedenen Familienmitgliedern voneinander zu trennen und gegeneinander abzuwägen. Dazu hatte er keinen Grund gehabt. In seinem Kopf waren diese drei Menschen fast zu einer Einheit verschmolzen: zu einer häuslichen Dreieinigkeit. Sie war die Grundlage für alles andere. Er war nicht ängstlich und quälte sich eigentlich nicht mit Vorstellungen darüber, wie sein Leben aussehen würde, wenn einem von ihnen etwas zustieße, doch jetzt, nach der Entdeckung von Sonias Leiche und dem anschließenden schrecklichen Gespräch mit Duffield, mußte er sich mit dieser Möglichkeit vertraut machen.
      Rosas Argumente erschienen ihm durchaus einsichtig. Erst wenn der Mann gefaßt war, würden sie in Sicherheit sein, und wenn sie dazu beitragen konnte, indem sie in erreichbarer Nähe blieb, war das offensichtlich das Vernünftigste, was sie tun konnte. Doch Angst kennt keine Vernunft. Die ganze Zeit kämpfte er gegen eine schreckliche Vorahnung an. Er wollte sich wie der Held eines Trivialromans verhalten. Sie an sich reißen, forttragen und mit ihr in einem der legendären
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