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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler
Autoren: Sebastian Fitzek
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hatten sie Morphet getauft, die Riesenkakerlake aus Réunion. Er hatte vorher nicht gewusst, dass diese ekligen Dinger tatsächlich fliegen konnten. Als sie dann im Internet nachlasen, stießen sie auf wilde Diskussionen, zu denen sie von jenem Tag an einen eindeutigen Beitrag beisteuern konnten: Ja, zumindest die aus Réunion waren dazu in der Lage, und eines dieser flugfähigen Exemplare hatte Natalie offenbar vor neun Monaten aus dem Urlaub eingeschleppt. Irgendwie musste das Monstrum beim Packen in den Koffer gekrochen sein, und als sie ihn zu Hause öffnete, hatte Morphet auf der Schmutzwäsche gesessen und sich die Fühler geputzt. Natalie hatte nicht einmal mehr Luft zum Schreien holen können, da war die Kakerlake schon losgeflogen, um sich in einer unerreichbaren Ecke des Altbaus zu verstecken.
    Sie hatten alles abgesucht. Jeden Winkel, von denen es unendlich viele gab in den hohen Räumen ihrer Fünfzimmerwohnung: unter den Scheuerleisten, hinter dem Wäschetrockner im Bad, zwischen Leons Architekturmodellbauten im Arbeitszimmer – sie hatten sogar die Dunkelkammer auf den Kopf gestellt, obwohl Natalie die Tür zu ihrem Fotolabor mit lichtundurchlässigem Stoff abgedichtet hatte und immer fest verschlossen hielt. Alles vergeblich. Das riesige Insekt mit den spinnenartigen Beinen und dem schmeißfliegenfarbenen Panzer war nicht wieder aufgetaucht.
    In der ersten Nacht noch hatte Natalie ernsthaft erwogen, die Wohnung wieder zu verlassen, in die sie damals erst vor wenigen Monaten gezogen waren.
    Um hier den Neuanfang zu wagen.
    Später hatten sie miteinander geschlafen und sich danach lachend beruhigt, Morphet wäre sicher zum Fenster raus in den Park geflogen, um zu erfahren, dass seine Artgenossen in dieser Stadt um einiges kleiner und unbehaarter waren als er selbst.
    Aber jetzt war er wieder da.
    Morphet war so nah, dass Leon ihn riechen konnte. Das war natürlich Blödsinn, aber der Ekel vor der Kakerlake war so groß, dass Leons Sinne ihm einen Streich spielten. Er glaubte sogar die Kotreste unzähliger Hausstaubmilben an den haarigen Beinchen zu erkennen, die das Insekt im Schutz der Dunkelheit unter dem Bett aufgesammelt hatte. Noch hatten die Fühler Leons aufgeplatzte, trockene Lippen nicht berührt, doch er meinte schon das Kitzeln zu spüren. Zudem hatte er eine Vorahnung, wie es sich anfühlen würde, wenn ihm die Kakerlake in die Mundhöhle kroch. Es würde salzig schmecken und kratzen, wie Popcorn, das einem am Gaumen klebt.
    Morphet würde sich langsam, aber zielstrebig in seinen Rachen hineinschieben und ihm dabei mit den Flügeln gegen die Zähne schlagen.
    Und ich kann nicht einmal zubeißen.
    Leon stöhnte, versuchte mit aller Kraft zu schreien.
    Manchmal half es, meist aber brauchte es mehr, um sich aus der Schlaflähmung zu befreien.
    Natürlich wusste er, dass die Kakerlake nicht real war. Es war früh am Morgen, wenige Tage vor Silvester. Im Schlafzimmer war es stockdunkel. Es war physikalisch unmöglich, auch nur die Hand vor Augen zu sehen, aber all diese Gewissheiten machten das Grauen nicht erträglicher. Denn Ekel, auch in seiner schlimmsten Form, war niemals real, sondern immer nur eine psychologische Reaktion auf einen äußeren Einfluss. Ob dieser eingebildet war oder tatsächlich existierte, machte für das Empfinden keinen Unterschied.
    »Natalie!«
    Leon versuchte den Namen seiner Frau zu schreien, und versagte kläglich. Wie schon so oft war er in einem Wachtraum gefangen, aus dem er sich ohne fremde Hilfe kaum befreien konnte.
    »Menschen mit einer Ich-Schwäche sind anfällige Opfer von Schlafparalysen«, hatte Leon in einer populärpsychologischen Zeitschrift gelesen und sich zum Teil in dem Artikel wiedererkannt. Er hatte zwar keinen Minderwertigkeitskomplex, aber insgeheim bezeichnete er sich als einen »Ja, aber«-Typen: Ja, seine dunklen Haare waren voll und kräftig, aber unzählige Wirbel sorgten dafür, dass er meistens so aussah, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Ja, das leicht zum V abfallende Kinn verlieh seinem Gesicht etwas markant Männliches, aber sein Bartwuchs entsprach dem eines Teenagers. Ja, er hatte weiße Zähne, aber wenn er zu herzlich lachte, sah man, dass er mit den Füllungen den SUV seines Zahnarztes finanziert hatte. Und ja, er war einen Meter fünfundachtzig groß, aber er wirkte kleiner, weil er selten gerade stand. Kurz: Er sah nicht schlecht aus. Doch die Frauen, die auf ein Abenteuer aus waren, schenkten ihm vielleicht ein
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