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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler
Autoren: Sebastian Fitzek
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reichte aus, um zu erkennen, dass dahinter ein großer Teil eines Schneidezahns fehlte.
    »Ich?«
    Natalie nutzte den Moment seines Entsetzens und wehrte seine Berührungen ab. Sie griff nach ihrem Handy auf dem Bett. An ihrem Smartphone baumelte ihr Glücksbringer, eine mehrgliedrige rosa Kunstperlenkette, jede Perle mit einem Buchstaben ihres Namens versehen – Natalies Namensbändchen, das ihr nach der Geburt vor siebenundzwanzig Jahren im Krankenhaus am Handgelenk befestigt worden war. Mit dem Handy in der einen und dem Gepäck in der anderen Hand stürzte sie aus dem Schlafzimmer.
    »Wo willst du hin?«, schrie er ihr hinterher, da war sie schon auf halbem Wege zur Tür. Als er ebenfalls in die Diele eilen wollte, stolperte er über eine Kiste mit Bauplänen, die er mit ins Büro nehmen wollte.
    »Natalie, bitte erklär mir doch …«
    Sie drehte sich nicht einmal mehr zu ihm um, als sie in das Treppenhaus rannte.
    Später, in den folgenden Tagen des Grauens, war Leon sich nicht mehr sicher, aber er meinte sich zu erinnern, dass seine Frau das rechte Bein nachgezogen hatte, als sie zur Tür lief. Doch das mochte auch an dem schweren Gepäck oder an den nicht verschnürten Schuhen gelegen haben.
    Als Leon sich wieder aufgerappelt hatte, war sie bereits in dem altertümlichen Fahrstuhl verschwunden und hatte die Schiebetür wie einen Schutzschild vor sich zugezogen. Das Letzte, was Leon von der Frau sah, mit der er die letzten drei Jahre seines Lebens geteilt hatte, war wieder dieser entsetzte, angsterfüllte (dieser mitleidige? ) Blick: »Ich?«
    Dann setzte sich die Fahrstuhlkabine in Bewegung. Nach einer Schrecksekunde rannte Leon zur Treppe.
    Die breiten Holzstufen, die sich wie eine Schlange um den Fahrstuhlschacht nach unten wanden, waren mit Sisalteppich ausgelegt, dessen grobe Fasern ihm in die Fußsohlen stachen. Leon trug nichts am Leib bis auf eine weite Boxershorts, die ihm bei jedem Schritt über die schmalen Hüften zu rutschen drohte.
    Auf halbem Weg hatte er bereits ein gutes Stück wettgemacht, und er ging davon aus, den Fahrstuhl spätestens im Erdgeschoss einholen zu können, wenn er weiterhin mehrere Stufen auf einmal nahm. Doch dann öffnete die alte Ivana Helsing im zweiten Stock ihre Wohnungstür, nur für einen Spalt und ohne die Sicherheitskette von innen zu lösen, aber das reichte aus, um Leon ein Bein zu stellen.
    »Alba, komm zurück«, hörte Leon seine Nachbarin noch rufen, aber da war es bereits zu spät. Die schwarze Katze war aus der Wohnung ins Treppenhaus entwichen und lief ihm zwischen die Beine. Um nicht der Länge nach hinzuschlagen, musste er sich mit beiden Händen am Treppengeländer festhalten und stehen bleiben.
    »Großer Gott, Leon. Haben Sie sich etwas getan?«
    Er ignorierte die besorgte Stimme der Alten, die die Tür nun ganz geöffnet hatte, und drängte an ihr vorbei.
    Noch war es nicht zu spät. Noch hörte er das Knarzen der Holzkabine des Fahrstuhls und das Knacken der Stahlseile, an denen sie hing.
    Im Erdgeschoss angekommen, bog er um die Ecke, rutschte auf dem glatten Marmor zur Seite und kauerte schließlich auf allen vieren, keuchend und hechelnd, vor der Fahrstuhltür, hinter der sich die Kabine langsam in ihre Ruheposition senkte.
    Und dann geschah … nichts.
    Kein Rütteln, kein Klappern, nicht der geringste Laut, der darauf hindeutete, dass jemand aussteigen wollte.
    »Natalie?«
    Leon atmete tief durch, stemmte sich hoch und versuchte, etwas hinter den bunten Jugendstilglasscheiben zu erkennen, die in die Tür eingefasst waren, doch er sah nur Schatten.
    Also zog er selbst die Tür von außen auf. Und starrte in sein eigenes Gesicht.
    Die verspiegelte Kabine war leer, Natalie fort. Verschwunden.
    Wie ist das möglich?
    Leon sah sich hilfesuchend um, und in diesem Moment betrat Dr. Michael Tareski den verwaisten Hausflur. Der Apotheker, der im vierten Stock über ihm lebte, nie grüßte und immer teilnahmslos wirkte, trug ausnahmsweise keinen Blazer zu weißen Leinenhosen, sondern einen Trainingsanzug und Sportschuhe. Eine matt glänzende Stirn und die dunklen Flecken unter den Achseln seines Sweatshirts entlarvten den Jogginglauf zu morgendlicher Stunde.
    »Haben Sie Natalie gesehen?«, fragte Leon.
    »Wen?«
    Tareskis argwöhnischer Blick wanderte von Leons nacktem Oberkörper nach unten zu seinen Boxershorts. Vermutlich ging der Apotheker im Geiste durch, welche Medikamente für den verwirrten Zustand seines Nachbarn verantwortlich sein
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