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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler
Autoren: Sebastian Fitzek
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Lächeln, aber nicht ihre Telefonnummer. Die gaben sie eher seinem besten Freund Sven, dem im Genpoker ein Royal Flash zugespielt worden war: Haare, Zähne, Lippen, Körpergröße, Hände … alles wie bei Leon, nur eben ohne das »Aber«.
    »Natalie?«, versuchte Leon sich grunzend aus der Schlaflähmung zu kämpfen. »Bitte hilf mir. Morphet kriecht mir gleich über die Zunge.«
    Leon wunderte sich über die unerwarteten Laute, die er von sich gab. Auch im Traum sprach, grunzte oder weinte er grundsätzlich immer nur mit seiner eigenen Stimme. Das Wimmern, das er jetzt hörte, klang jedoch heller, höher. Eher wie das einer Frau.
    »Natalie?«
    Auf einmal wurde es hell.

    Gott sei Dank.
    Diesmal hatte er es ohne Strampeln und Schreien geschafft, sich aus der Umklammerung seines Alptraums zu reißen. Er wusste, fast jeder zweite Mensch hatte in seinem Leben ähnliche Erfahrungen erlitten wie er und war schon einmal in der Schattenwelt zwischen Schlafen und Wachen gefangen gewesen. Eine Schattenwelt, umstellt von Torwächtern, die sich nur mit äußerster Willenskraft vertreiben ließen. Oder durch eine paradoxe Störung von außen. Wenn zum Beispiel jemand mitten in der Nacht grelles Licht anschaltete, laute Musik spielte, eine Alarmanlage ansprang oder wenn … wenn jemand weinte?
    Leon richtete sich auf und blinzelte.
    »Natalie?«
    Seine Frau kniete mit dem Rücken zu ihm vor dem Kleiderschrank gegenüber dem Bett. Sie schien etwas zwischen ihren Schuhen zu suchen.
    »Sorry, hab ich dich geweckt, Süße?«
    Keine Reaktion, von einem langgezogenen Schluchzer einmal abgesehen. Natalie seufzte, dann verstummte auch das Wimmern.
    »Geht es dir gut?«
    Sie nahm stumm ein Paar Stiefeletten aus dem Schrank und warf es in …
    … in ihren Koffer?
    Leon schlug seine Decke zurück und stand auf.
    »Was ist denn los?« Er blickte auf die Uhr auf seinem Nachttisch. Es war erst Viertel vor sieben. So früh, dass noch nicht einmal die Beleuchtung von Natalies Aquarium angesprungen war.
    »Bist du immer noch sauer?«
    Sie hatten sich die ganze Woche über immer wieder gestritten, und vorgestern war es eskaliert. Beide konnten vor Arbeit kaum geradeaus sehen. Sie wegen ihrer ersten großen Fotoausstellung, er wegen des Architekturwettbewerbs. Jeder warf dem anderen vor, vernachlässigt zu werden, und jeder hielt die eigenen Termine für wichtiger als die des anderen.
    Am ersten Weihnachtsfeiertag war dann zum ersten Mal das Wort »Trennung« gefallen, und auch wenn sie beide es nicht ernst gemeint hatten, war es ein alarmierendes Zeichen, wie blank ihre Nerven lagen. Gestern hatte Leon einlenken und Natalie zu einem Versöhnungsessen ausführen wollen, aber sie war wieder einmal zu spät aus der Galerie nach Hause gekommen.
    »Hör mal, ich weiß, wir haben momentan unsere Probleme, aber …«
    Sie drehte sich abrupt zu ihm um.
    Ihr Anblick traf ihn wie eine Ohrfeige.
    »Natalie, was … ?« Er blinzelte und fragte sich kurz, ob er noch immer träumte. »Was um Himmels willen ist mit deinem Gesicht passiert?«
    Ihr rechtes Auge schimmerte violett, die Lider waren zugeschwollen. Sie war komplett angezogen, auch wenn alles nur hastig übergeworfen schien. Die geblümte Bluse mit den Rüschenärmeln war schief zugeknöpft, der Hose fehlte ein Gürtel, und die Laschen ihrer hochhackigen Wildlederstiefel schlackerten lose.
    Sie wandte sich wieder von ihm ab. Mit ungelenken Bewegungen versuchte sie, den Koffer zu schließen, doch der alte Ledertrolley war zu klein für die Menge Sachen, die sie in ihn hineinzuquetschen versuchte. Ein roter Seidenslip, ein Schal und ihr weißer Lieblingsrock quollen an den Rändern hervor.
    Leon ging auf sie zu, wollte sich zu ihr beugen, um sie beruhigend in die Arme zu schließen, doch Natalie duckte sich ängstlich von ihm weg.
    »Was ist denn nur los?«, fragte er völlig verwirrt, als sie hastig nach ihrem Koffer griff. Vier ihrer Fingernägel waren schlammfarben lackiert. Der fünfte fehlte.
    »Großer Gott, dein Daumen!«, rief Leon und wollte nach ihrer verletzten Hand greifen. Der Ärmel von Natalies Bluse rutschte nach oben, und er sah die Einschnitte.
    Rasierklingen?
    »Um Himmels willen, Natalie. Hast du wieder damit angefangen?«
    Es war die erste Frage, die eine Reaktion hervorrief.
    »Ich?«
    In ihrem Blick lag eine Mischung aus Bestürzung, Angst und – was Leon in diesem Moment am meisten verwirrte – Mitleid. Sie hatte die Lippen nur einen schmalen Spalt geöffnet, aber der
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