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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
Autoren: Rick Yancey
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Worten umgehen«, gab der Doktor zu. »Unter anderem. Ah, da ist ja Will Henry mit dem Tee!«
    Als ich den Salon betrat, stand der Monstrumologe am Kaminsims und fuhr mit einem Finger nachdenklich die Nase der Büste des alten griechischen Philosophen Zenon auf und ab. Unser Gast lag auf dem Diwan, das hagere Gesicht noch gerötet von seinem Martyrium. Mit zitternder Hand griff er nach der Tasse.
    »Der Tee«, murmelte er. »Es muss der Tee gewesen sein.«
    »Das Medium für das Gift?«, fragte der Doktor.
    »Nein! Das hat er mir injiziert, als ich wieder zu Sinnen kam.«
    »Ah, Sie meinen, er hat Ihnen heimlich irgendeinen Schlaftrunk verabreicht!«
    »So muss es gewesen sein. Es kann keine andere Erklärung geben. Ich dankte ihm für den Tee – oh, wie muss er meine Dankbarkeit genossen haben! – und war nicht mehr als zwei Schritte von der Tür weg, als der Raum sich zu drehen begann und alles schwarz wurde. Als ich wach wurde, waren viele Stunden vergangen – die Nacht war zur Gänze hereingebrochen –, und da stand er neben mir, grausig grinsend.
    ›Sie hatten einen kleinen Anfall‹, sagte er.
    ›Ich befürchte es‹, sagte ich. Ich fühlte mich total ausgelaugt und vollkommen hilflos, jeglicher Lebenskraft beraubt. Allein meinen Kopf zu drehen, um ihn anzublicken, erforderte jede Unze Kraft in meinem Körper.
    ›Glück für Sie, dass es Sie in Anwesenheit eines Arztes getroffen hat!‹, bemerkte er mit völlig ehrlicher Miene. ›Ich dachte mir schon, dass etwas mit Ihnen los ist, als ich Sie das erste Mal sah, Kendall. Ein bisschen grün um die Nasenspitze. Klar, Sie haben wahrscheinlich zu hart gearbeitet, um die Armen und Unterdrückten auszubeuten und Mieten für Löcher einzutreiben, die eine Ratte ein Zuhause zu nennen sich schämen würde – ein Fall von Miethai-Erschöpfung, ist meine Vermutung. Ich würde vorschlagen, Sie ziehen einen Urlaub auf dem Land in Betracht. Ein bisschen frische Luft schnappen. Die Atmosphäre dieser Viertel ist ja völlig faulig, erfüllt wie sie ist vom Gestank menschlichen Leidens und der Hoffnungslosigkeit. Machen Sie eine kleine Reise! Ein Tapetenwechsel würde Wunder wirken.‹
    Ich verwahrte mich vehement gegen diese beleidigenden Bemerkungen. Ich bin kein Miethai, Dr. Warthrop. Ich stelle eine notwendige Dienstleistung zur Verfügung, und nur ein- oder zweimal habe ich jemanden auf die Straße gesetzt, weil er die Miete nicht gezahlt hat. So vollkommen war meine Empörung, dass ich ihn für diese üblen Verhöhnungen meines Charakters geschlagen hätte, aber ich konnte die Hand nicht einmal einen Zoll weit vom Bett erheben.
    ›Ich bin überaus froh, dass Sie vorbeigeschaut haben‹, fuhr er in diesem seinem unerträglichen vergnügten Tonfall fort. ›Gott persönlich muss Sie geschickt haben – Gott oder etwas sehr Ähnliches. Sehen Sie, dem Postversand kann ich es nicht anvertrauen, und selbst kann ich nicht gehen – ich muss morgen Abschied nehmen von dieser gesegneten Insel –, und in dieser Umgebung einen verlässlichen Kurier zu finden hat sich als schwieriger erwiesen, als ich vorhergesehen habe. Man kann sich einfach auf niemanden aus dem Ghetto verlassen – aber das muss ich Ihnen ja nicht erzählen! Und da kommen auf einmal Sie, Kendall! Zugestellt wie das beste Geschenk – vollkommen zufriedenstellend und gänzlich unerwartet. Die Antwort auf das Gebet eines Mannes, der nie betet! Das ist doch ein ausgesprochen glücklicher Zufall, gelinde gesagt, finden Sie nicht?‹«
    Kendall hielt inne, nippte an seinem Tee und starrte eine Weile schweigend ins Leere. Er hatte den gehetzten Blick eines Mannes, der mit knapper Not einem Zusammenstoß mit dem Engel des Todes entgangen war, was er buchstäblich ja auch war.
    »Nun ja, ich will zugeben, dass ich nicht wusste, was ich denken sollte, Dr. Warthrop. Was sollte ich denn denken? Binnen eines Moments und ohne Warnung war ich aller meiner Fähigkeiten beraubt worden, und jetzt lag ich benommen da, die Gedanken verschwommen, gelähmt auf seinem Bett, und er blickte höhnisch auf mich herab. Was sollte ein Mann da denken?
    ›Es handelt sich um eine Kleinigkeit‹, fuhr er fort. ›Eine Bagatelle eigentlich. Aber es sollte lieber früher als später zugestellt werden. Wenn es das ist, wofür ich es halte, und es das verkörpert, was ich denke, dass es verkörpert, wird er es schnell habenwollen. Eine Verzögerung könnte ihn das ganze Spiel kosten, und das würde er mir nie
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