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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
Autoren: Rick Yancey
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Doktor es sehen konnte.
    »Ihre Adresse – und der Name des Giftes, falls ich ihn vergessen sollte. Ihn vergessen! Als ob ich diesen verfluchten Namen jemals vergessen würde! Er sagte mir, ich hätte zehn Tage. ›Mehr oder weniger, mein lieber Kendall.‹ Mehr oder weniger! Dann hielt er mir – während diese schreckliche glitzernde Nadel in seiner Hand einen Zoll vor meiner Nase schwebte – einen Vortrag darüber, wie hochgeschätzt dieses Gift sei; dass der Zar von Russland einen geheimen Vorrat im kaiserlichen Tresor aufbewahre; wie es von den alten Griechen und Römern geschätzt wurde (›Es heißt, das war es, was Kleopatra wirklich tötete‹); dass es die bevorzugte Methode von Attentätern sei, weil es so schleichend wirke und dem Täter dadurch ermögliche, meilenweit weg zu sein, bis dem Opfer das Herz in der Brust explodiere. Dieser schauderhaften Rede folgte eine umfassende Beschreibung der Auswirkungen des Giftes: Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, nervöse Unruhe, rasende Gedanken, Herzklopfen, paranoide Wahnvorstellungen, übermäßiges Schwitzen, verstopfte Gedärme in manchen Fällen oder Durchfall in anderen –«
    Der Doktor nickte knapp. Er war ungeduldig geworden. Ich wusste, was es war. Der Kasten. Das Paket zog an ihm, lockte ihn. Was immer Kearns diesem redseligen Engländer anvertraut hatte, es war wertvoll genug (zumindest im monstrumologischen Sinne), um für seine erfolgreiche Zustellung den Tod eines Menschen zu riskieren.
    »Ja, ja«, sagte Warthrop. »Ich bin mit den Auswirkungen von Tipota vertraut – genauso vertraut, wenngleich nicht so intim, wie …«
    Nun war es Kendall, der unterbrach, denn er war mehr dort als hier und würde es auch immer sein, hilflos auf Kearns’ Bettliegend, während der Geistesgestörte sich über ihn beugte und im Lampenlicht boshaft angrinste. Ich bezweifle, dass der arme Mann dieser schäbigen Wohnung in Londons East End jemals ganz entkommen würde, nicht im wahrsten Sinne. Bis zu seinem Tod würde er ein Gefangener dieser Erinnerung bleiben, ein Sklave in Diensten Dr. John Kearns’.
    »›Bitte‹, flehte ich ihn an«, fuhr Kendall fort. »›Bitte, um Gottes willen!‹
    Schlecht gewählte Worte, Dr. Warthrop! Bei der Erwähnung des Namens der Gottheit veränderte sich sein ganzes Auftreten, als ob ich die Jungfrau selbst profaniert hätte. Das schaurige Grinsen verschwand, die Mundwinkel hingen herunter, die Augen wurden zu Schlitzen.
    ›Um wessentwillen, haben Sie gesagt?‹, fragte er in einem gefährlichen Flüsterton. ›Um Gottes willen? Glauben Sie an Gott, Kendall? Beten Sie gerade zu ihm? Wie sonderbar. Sollten Sie nicht lieber zu mir beten, denn ich halte Ihnen gerade den Tod buchstäblich einen Zoll vor die Nase? Wer hat jetzt mehr Macht – ich oder Gott? Bevor Sie ›Gott‹ antworten, denken Sie gut nach, Kendall! Falls Sie recht haben, und ich steche Sie mit meiner Nadel, beweist das, dass Sie recht oder unrecht haben? Und welche Antwort wäre schlimmer? Falls recht, dann zieht Gott mich Ihnen doch wohl vor. Tatsächlich muss er Sie für Ihre Sünde verachten, und ich bin bloß sein Instrument. Falls unrecht, dann beten Sie zu nichts.‹ Er fuchtelte mir mit der Nadel dicht vorm Gesicht herum. › Nichts! ‹ Und dann lachte er.«
    Wie kontrapunktisch hielt er in seiner Erzählung inne und weinte bittere Tränen.
    »Und dann sagte er, das widerliche Scheusal: ›Wieso beten Menschen zu Gott, Kendall? Ich habe es nie begriffen. Gott liebt uns. Wir sind seine Schöpfung, wie meine Spinne; wir sind seine Lieblinge. Doch wenn wir uns tödlicher Gefahr gegenübersehen, beten wir zu ihm, uns zu verschonen! Sollten wir nicht stattdessen zu demjenigen beten, der uns tatsächlich vernichten will, der von Anfang an nach unserer Vernichtung getrachtet hat?Was ich sagen will, ist … Beten wir nicht zum falschen Wesen? Wir sollten den Teufel anflehen, nicht Gott. Verstehen Sie mich nicht falsch; ich will Ihnen nicht vorschreiben, wohin Sie Ihre Bittgesuche zu richten haben. Ich weise nur auf deren Unlogik hin – und mache vielleicht eine Andeutung über die Ursache hinter der merkwürdigen Wirkungslosigkeit des Gebets.‹«
    Kendall machte eine Pause, um sich verärgert das Gesicht abzuwischen, und sagte: »Nun ja, ich nehme an, Sie können sich denken, was er als Nächstes getan hat.«
    »Er injizierte Ihnen Tipota«, tippte mein Herr. »Und binnen Sekunden verloren Sie das Bewusstsein. Als Sie erwachten, war Kearns
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