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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
Autoren: Rick Yancey
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davor und verlangte danach. Vor allem anderen waren es Furcht und Verlangen, die ich vom Monstrumologen geerbt hatte.
    Als ich unten ankam, hörte ich das Wort »Prächtig!«. Der Doktor stand mit dem Rücken zu mir über seinen Arbeitstisch gebeugt, sodass der offene Kasten meinen Blicken entzogen war; die Schnur und das Packpapier, die hastig abgerissen worden waren, lagen zusammengeknüllt auf dem Fußboden. Die unterste Stufe stieß unter meinem Fuß ein fast unhörbares Ächzen aus, und er wirbelte herum, presste sich mit dem Rücken an den Tisch und breitete die Arme weit aus, um zu verbergen, was sich darauf befand.
    »Will Henry!«, rief er heiser. »Was zum Teufel machst du hier? Ich habe dir doch gesagt, du sollst bei Kendall bleiben!«
    »Mr Kendall schläft, Sir!«
    »Daran habe ich keinerlei Zweifel! Ich habe ihm eine zehnprozentige Morphiumlösung gespritzt.«
    »Morphium, Dr. Warthrop?«
    »Und ein bisschen Lebensmittelfarbe, um Eindruck zu machen. Vollkommen harmlos.«
    Ich bemühte mich, die Bedeutung dessen zu erfassen. »Es war nicht das Gegenmittel?«
    »Es gibt kein Gegenmittel für Tipota, Will Henry.«
    Ich rang nach Luft. Warthrop hatte gelogen, und ich hatte ihn noch nie eine bewusste Unwahrheit von sich geben hören. Tatsächlich sparte er sich seine heftigste Verachtung für genau diese Praktik auf, nannte sie die schlimmste Art des Possenreißens und der Dummheit – und der Monstrumologe gehörte nicht zu dem Schlag Mensch, der Dummköpfe freudig ertrug.
    Was konnte es für eine Erklärung dafür geben? Wollte er einen Todgeweihten begütigen? Ihm ein gewisses Maß an Frieden für seine letzten Momente auf Erden geben? War seine Lüge tatsächlich ein Akt der Gnade gewesen?
    Der Doktor warf einen Blick über die Schulter auf den Tisch. Mit eisigem Blick wandte er sich mir wieder zu. »Was?«, fragte er herrisch. »Was starrst du an?«
    »Nichts, Sir. Ich dachte nur, Sie bräuchten vielleicht …«
    »Ich habe alles, was ich im Augenblick brauche, danke. Gehsofort zu Mr Kendall zurück, Will Henry! Er sollte nicht allein gelassen werden.«
    »Wie … Wie lange hat er noch?«
    »Das ist äußerst schwierig zu sagen – es gibt so viele Variablen – dreißig, vielleicht vierzig Jahre.«
    »Jahre! Aber Sie sagten, es gäbe kein Gegen…«
    »Ja, das sagte ich, und nein, es gibt keins, weil es keine derartige Sache gibt, Will Henry. › Tipota‹ ist das griechische Wort für ›nichts‹.«
    »Ehrlich?«
    »Nein, ich lüge dich an. Eigentlich ist es das griechische Wort für ›dummes Kind‹. Ja, es bedeutet ›nichts‹ auf Griechisch, und etwas wie einen Pyritbaum gibt es nicht. Der andere Name von Pyrit ist Katzengold. Und in der Nähe des Galapagosarchipels gibt es keine Insel der Dämonen. Als Kearns Kendall instruierte – ›Sagen Sie ihm, es ist Tipota‹ –, hat er es wörtlich gemeint.«
    »Sie meinen, es war … Es war alles ein Scherz?«
    »Eher ein Trick. Er musste Kendall glauben machen, er sei vergiftet worden, um die Zustellung des Pakets zu garantieren. Nun, falls du jetzt so weit damit fertig bist, mit aufgesperrten Kiefern wie der widerwärtigste Mundatmer hier rumzustehen, dann tu bitte, um was ich dich gebeten habe, und kümmere dich um unsern Gast.«
    Ich gehorchte nicht sofort. Mein Erstaunen überwog meine Loyalität.
    »Aber seine Symptome …«
    »Sind alle der psychischen Pein zuzuschreiben, hervorgerufen durch den Glauben, er sei vergiftet worden.«
    »Dann haben Sie es die ganze Zeit über gewusst? Aber warum haben Sie ihm dann nicht …«
    »Die Wahrheit gesagt? Meinst du, der arme Narr hätte mir geglaubt, wenn ich es getan hätte? Er hat keine Ahnung, wer ich bin. Vielleicht wäre er ja auf die Idee gekommen, ich sei Teil von Johns teuflischem Plan und hätte, ausgelöst von derEnormität seiner Angst und dem Ende aller Hoffnung, eventuell einen Herzanfall bekommen und wäre selbigem erlegen. Das hätte durchaus passieren können, und vermutlich hat Kearns sogar damit gerechnet, dass es passiert, was sein Spiel nur umso niederträchtig köstlicher macht. Stell dir das doch einmal vor, Will Henry! Die Lüge führt ihn den ganzen Weg hierher … und dann bringt die Wahrheit ihn um! Nein, ich habe es sofort durchschaut und den einzigen moralischen Weg beschritten, der mir zu Gebote stand – selbst Heilige dürfen sündigen, auf dass Gottes Wille geschehe!«
    Er zeigte die Treppe hoch. »Mach fix, Will Henry.«
    Das tat ich, auch wenn nicht viel
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