Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Suche nicht die Suende

Suche nicht die Suende

Titel: Suche nicht die Suende
Autoren: Meredith Duran
Vom Netzwerk:
Prolog
    1886
    Dieses England war eine bösartige Hexe, die ihm Übles wollte. Am Pier von Southampton hatte sie ihn mit Donnergrollen begrüßt. Auf seiner Reise nach Norden waren Bäume von Blitzschlägen gespalten worden und wie Dominosteine auf die Straßen gestürzt. Das Bad im Fluss heute Morgen war zu einem Kampf gegen die Unterströmung geworden. Und nun ließ sich die Sonne sehen – obwohl gerade jetzt ein Sturm die passendere Kulisse gewesen wäre. Das bunte Glas der bleigefassten Fenster strahlte auf, und helles Sonnenlicht flutete das Innere der Kirche. Wie ein kleines Wunder kam es Alex vor, dass sie ihn nicht zu Asche verbrannte.
    Die Messingbeschläge des Sargs glänzten matt.
    Er kniete sich auf das kleine Kissen, das unter dem Druck leise seufzte und den Duft von Lavendel verströmte. Seine Hände legten sich in einer alten, längst überkommenen Gewohnheit zusammen und verschränkten sich zum Gebet. Doch ihm fiel keines ein. Seltsam distanziert fühlte er sich von dem Geschehen.
    Es war die reinste Ironie. Seine ganze Kindheit hindurch hatte Alex darum gekämpft, seine Gefühle zu unterdrücken und zum Schweigen zu bringen, damit sie ihm nicht die Luft abschnürten – aber erst jetzt, nachdem seine Krankheit seit Langem überwunden war, beherrschte er diese Fähigkeit meisterhaft. Selbst tiefes Leid berührte ihn nicht mehr. Die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, fühlten sich frei an. Teilnahmslos lauschte er auf die ferne Stimme in seinem Bewusstsein, die von Zorn sprach.
    Dieser Tod war sinnlos gewesen.
    Richard und sein verdammter Leichtsinn.
    Du bist schuld.
    Was selbstverständlich Unsinn war.
    Alex beobachtete, wie sich seine Finger anspannten. Die Knöchel hoben sich weiß gegen die Haut ab, die noch von der italienischen Sonne gebräunt war. Gut so, Melodramatik half oft, wenn ein Gebet es nicht vermochte. Richards letzte freundliche Worte an ihn – er konnte sich nicht daran erinnern. Sie waren betrunken gewesen. Doch am nächsten Tag war dann die Wut gekommen: Richards Anklagen gegen ihn, dann seine eigenen kalten Antworten darauf – und dazu auch noch der beißende Geruch von Gwens Brief, der im Kamin verbrannte. Daran erinnerte sich Alex genau, schließlich war er wieder nüchtern gewesen.
    Auch deshalb durfte es keine Entschuldigung für das geben, was danach geschehen war.
    In der Gewissheit, dass Richard wie ein neugieriger Welpe reagieren würde, hatte ihm Alex die Richtung in eine Wolfshöhle gewiesen. Seit Tagen schon hatte Richard nach einem Abenteuer gequengelt. Unstet und gereizt war er immer auf der Suche nach jenen leichtfertigen dummen Eskapaden gewesen, von denen in Reiseberichten von Junggesellen so gern die Rede war. Als ihm Alex vor einiger Zeit angeboten hatte, ihn als Partner in die Reederei aufzunehmen, hatte Richard vielleicht nicht erwartet, dass Geschäftemachen auch harte Arbeit mit sich brachte.
Welchen Sinn hat es, Gewinn zu machen, wenn wir nichts davon ausgeben können?
    Dann geh
, hatte Alex zu ihm gesagt. Jene Spielhölle war in keinem Reiseführer verzeichnet gewesen, schließlich existierte sie außerhalb der Legalität.
Aber du gehst wohl besser allein. Wenn du der Meinung bist, ich sei darauf aus, deine Schwester zu verführen, dann legst du vermutlich keinen Wert auf meine Gesellschaft.
Mit dieser Bemerkung hatte sich Alex wieder einem Stapel von Finanzberichten zugewandt – als hätten derart blutleere Angelegenheiten mehr von seiner Aufmerksamkeit verdient als der naive Richard, den er losgeschickt hatte, um mit den Wölfen zu spielen.
    Richard war also in jene Spielhölle gegangen, um etwas zu beweisen.
Du hast nichts, worauf du stolz sein kannst
, hatte er im Weggehen gesagt.
Denn trotz all deiner hochfliegenden Ideale treibt dich einfach nur die Feigheit an. Jeder kann das schnelle Geld machen, Ramsey. Jeder kann den Rebellen spielen.
    Für seine Naivität hatte Richard ein Messer zwischen die Rippen bekommen.
    »Du bist ein verdammter Narr gewesen«, flüsterte Alex jetzt.
    Und zweifellos der beste Freund, den ein Mann hatte haben können.
    Richard war der einzige Junge gewesen, der sich während Alex’ erstem Semester in Rugby die Mühe gemacht hatte, mit ihm zu sprechen. Das war in jenem Jahr gewesen, bevor sich sein Körper darauf besonnen hatte, verlässlich zu atmen und zu wachsen.
    Richard hatte als Einziger Alex dazu ermutigt, seine Träume zu verwirklichen. Ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Gerry.
Du bist ein einfältiger
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher