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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Autoren: Peter May
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Als sie versuchte, auf die Knie zu kommen, packte sie eine kräftige Hand am Arm und zog sie behutsam hoch. Sie strich sich das kastanienbraune Haar aus dem Gesicht und blickte zu dem Mann auf, der sie immer noch hielt. Blaue Augen, die einen seltsamen Gleichmut ausstrahlten. Das Chaos rings um ihn schien ihn kaltzulassen. Lächelte er? Jemand brüllte etwas vom Podium. Der Mann drehte sich um, und sie sah, dass sein rechtes Ohrläppchen fehlte.
    «Signor Capaldi! Wo ist Signor Capaldi!» Die Stimme klang hysterisch.
    Jemand anders rief: «Er lebt! Mein Gott, er ist noch am Leben.»
    Dann eine Frau: «Und die Dolmetscherin?»
    «Die hat’s erwischt. Kaum was von ihr übrig geblieben.»
    Jemand übergab sich.
    Kirsty knickten die Knie ein, und nur die Hand an ihrem Arm hielt sie aufrecht. Der Mann drehte sich wieder zu ihr um. «Sie haben Glück gehabt.»
    So viel war klar: Wäre das Wetter nicht so schlecht gewesen und das Taxi pünktlich gekommen, dann hätte es Kirsty dort vorne in Stücke gerissen.

Kapitel drei
    Die Gartenanlagen rings um die Kathedrale St. Étienne lagen hinter den grauen Geländern im kalten Novemberlicht menschenleer da. Auf den Beeten waren die toten Blumen entfernt worden, die Rasenflächen schlummerten unter einer Decke aus Raureif. Hinter dem Place Champollion am unteren Ende der Rue Maréchal Foch hing frostiger Nebel über dem Fluss. Enzo hatte gehört, dass es im Norden schneite, doch hier im Südwesten Frankreichs war es einfach nur kalt. So kalt, dass es einem unter die Haut kroch.
    Donnerstag war beim Friseur Schulungstag. Zwanzig Prozent Nachlass für jeden, der sich den Auszubildenden als Versuchskaninchen anbot. Da war es nur natürlich, dass ein Schotte, der nach alter Väter Sitte die Tugend der Sparsamkeit hochhielt, den monatlichen Haarschnitt auf diesen Tag legte. Xavier, der Friseur, kürzte seine lange dunkle Mähne ohnehin immer nur um einen guten Zentimeter – eben so viel, dass sie nicht verfilzte, wenn er sie wie gewohnt zu einem Pferdeschwanz nach hinten band.
    Die junge Frau hatte sein Haar zunächst gewaschen und kämmte es jetzt unter Xaviers wachsamen Augen zurück, bevor sie jeweils eine flache, saubere Strähne zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmte, um die überstehenden Enden abzuschneiden. Mit einer gewissen Sorge betrachtete Enzo die Haare, die im Kamm hängen blieben – der früher einmal schwarze Schopf erschien ihm mit jedem Tag grauer.
    «Ist das Haarausfall?», fragte er den Friseur.
    Xavier zuckte theatralisch die Achseln. Er war schätzungsweise Mitte vierzig, vielleicht fünf, sechs Jahre jünger als Enzo, und trug sein Schwulsein übertrieben vor sich her. «Uns gehen ständig Haare aus, das ist ganz natürlich. Sie haben immer noch einen prächtigen Schopf.» Er überlegte. «Ich könnte Ihnen allerdings eine Farbspülung anbieten. Um das Grau abzudecken. Gute Übung für den Lehrling.»
    Doch Enzo schüttelte den Kopf. «Wir sind, was wir sind.» Er blickte aus dem Fenster und verweilte einen Moment bei den Gärten der Kathedrale auf der anderen Straßenseite, während er ein mulmiges Gefühl in der Magengrube bekam.
    Xavier legte den Kopf schief. «Sie sind heute irgendwie nicht Sie selbst, Monsieur.»
    «Dann verwechseln Sie mich vielleicht mit jemandem.»
    Der Friseur lachte leise. «Sie sind mir ein Scherzbold, Monsieur Mackay.» Doch Enzo lächelte nicht.
    Auch als er zehn Minuten später mit frisch geföhntem, vollem und glatt frisiertem Haar, das im Nacken mit einem ausgefransten grauen Gummi zusammengebunden war, aus dem Laden trat, verzog er keine Miene. Er schien mit den Gedanken woanders, als er sich verabschiedete, das Internet-Café an der Ecke passierte, sich dann vom Fluss abwandte und in Richtung Place Clément Marot ging. In der Crêperie Le Baladin und im Le RendezVous nebenan deckten die Kellner bereits die Tische fürs Mittagessen. Auf dem Place de la Libération beschlich ihn das seltsame Gefühl, dass das Leben einfach ungerührt seinen Lauf nahm: In der Bäckerei standen die Leute nach Brot an, am Zeitungsstand lehnte ein Mann mit einer nikotinverfärbten Zigarette im Mundwinkel und las die neueste Ausgabe von La Dépêche . Enzo schien das alles ein wenig surreal.
    Er zog den Brief aus der Innentasche seiner Jacke, um die Adresse noch einmal zu überprüfen. Seit Tagen hatte er die Sache mit aller Macht verdrängt, doch jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich der Wahrheit zu stellen. Er hatte die Rue des
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