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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Autoren: Peter May
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haben. Außerdem schob es den unvermeidlichen Moment nur hinaus.
    «Also, worüber müssen wir reden?» Offenbar wollte auch Lambert die Sache möglichst schnell hinter sich bringen.
    Doch Yves hörte nicht zu. Seine Brust fühlte sich plötzlich an wie in einen Schraubstock geklemmt, seine Lunge weigerte sich, die verbrauchte Luft auszustoßen. Die Kehle schwoll an, sein rasender Puls pochte in den Halsschlagadern. Die geröteten Augen tränten, und als er die Tasse abstellen wollte, verschüttete er den Kaffee. Das Niesen und Husten setzte fast gleichzeitig ein. Er riss Mund und Augen auf, Panik ergriff ihn. Unwillkürlich schoss seine Hand hoch zu seinem Gesicht – eine Anstandsregel, die ihm eine besitzergreifende Mutter eingetrichtert hatte. Die Hand vor den Mund, wenn du hustest oder niest! Denk an die Bazillen! Einen Moment lang glaubte er, Lambert hätte durchschaut, weshalb er gekommen war, und hätte ihm irgendetwas in den Kaffee gemischt. Aber die Symptome waren ihm nur allzu vertraut.
    Inzwischen bekam er fast keine Luft mehr. Durch den Tränenfilm registrierte er verschwommen, wie Lambert aufsprang und alarmiert fragte: «Geht es Ihnen nicht gut? Was haben Sie?»
    Mit aller Macht sog Yves die Luft ein und presste sie wieder heraus. «Hast du … hast du ein Haustier?»
    Konsterniert schüttelte Lambert den Kopf. «Natürlich nicht. Was ist los mit Ihnen?»
    Als Yves sich mühsam aufrappelte, umrundete Lambert den Tisch, um ihn zu stützen. Jetzt oder nie. Yves packte ihn bei seinen ausgestreckten hageren Armen und warf sich mit seinem ganzen Gewicht nach vorn. Er hörte, wie Lambert vor Schreck der Atem stockte, bevor sie beide über den Sofatisch stürzten und zu Boden gingen. Yves lag oben, konnte jedoch kaum etwas sehen. Augen, Mund und Nase trieften, die Reaktion seines Körpers auf die Toxine, mit denen sein eigenes Immunsystem seine Atemwege attackierte.
    Lambert schrie unter ihm und schlug mit den Armen um sich. Yves tastete nach dem Gesicht des jungen Mannes, fand den Hals und drückte zu. Doch ihn verließen die Kräfte, und so griff er stattdessen nach dem Kopf. Er spürte Lamberts keuchenden Atem, bevor er ihm mit geübtem Griff eine Hand aufs Gesicht drückte und die andere am Hinterkopf platzierte. Von da an war es trotz allem ein Kinderspiel. Eine kurze ruckartige Drehung. Er hörte das Ploppen der ausgerenkten Wirbel und spürte beinahe selbst, wie die scharfe Kante des Knochens, losgelöst von der Bandscheibe, das Rückenmark durchschnitt. Lambert erschlaffte. Yves rollte sich von ihm herunter und blieb liegen, Wenn er jetzt das Bewusstsein verlor, würde er wahrscheinlich nicht wieder aufwachen. So schlimm war es noch nie gewesen.
    Mit fast übermenschlicher Anstrengung kam er schließlich auf die Knie. Er kramte in seiner Manteltasche nach dem Pillenfläschchen und krallte verzweifelt die Finger darum.
    Irgendwie schaffte er es in die Küche und würgte die Tabletten die fast zugeschwollene Kehle hinunter. Er hörte das Glas im Spülbecken zerspringen, als es ihm entglitt, hörte die Pillen auf den Boden prasseln. Egal. Wenn er nicht augenblicklich hier herauskam, würde er so tot sein wie der Mann nebenan.

Kapitel zwei
    Straßburg, November 2008
    Wie mit weichen Fingerspitzen trommelte der Schneeregen ans Fenster, schmolz im selben Moment und rann die Scheibe herab. Die Tränen des bevorstehenden Winters.
    Nervös starrte Kirsty im Dachgeschoss des alten Hauses aus dem Fenster. Seit einem halben Jahr lebte sie jetzt schon hier, und für das wenige, das sie in ihrem Zigeunerleben besaß, bot das Zimmer mit der Küche reichlich Platz. Sie bewohnte eines von zwölf Apartments in einer herrschaftlichen Villa, die sich angeblich ein reicher deutscher Industrieller Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet hatte.
    Straßburg war eine Stadt, die nicht recht wusste, wo sie hingehörte – sie war weder französisch noch deutsch. Als jahrhundertealter Zankapfel zwischen Erzfeinden hatte sie am Ende beschlossen, europäisch zu sein, eine recht verschwommene Idee ohne gemeinsame kulturelle Identität. Einerseits sprachen die Einwohner Französisch, andererseits war der deutsche Einfluss allgegenwärtig, und die Gründung des Europaparlaments im Norden der Stadt hatte eine Flut an Politikern und Bürokraten in die Stadt geschwemmt, die von Polnisch und Estnisch bis zu Portugiesisch und Italienisch eine Vielfalt an Sprachen mitbrachten.
    Was Kirsty, wenn sie es recht bedachte, nur recht
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