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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Autoren: Peter May
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sein konnte, denn ohne diese Leute hätte sie keinen Job. Sie sah auf die Uhr und erschrak. Wenn ihr Taxi nicht gleich kam, konnte sie sich bald eine neue Anstellung suchen.
    Sie verwünschte das Wetter. Längst bereute sie, dass sie sich nicht wie gewohnt aufs Fahrrad geschwungen hatte. Normalerweise legte sie die Strecke zum Parlament auf ruhigen Sträßchen zwischen Vorstadtgärten am Fluss in etwa zwanzig Minuten zurück. In den Dolmetscherkabinen oberhalb des Plenarsaals kümmerte sich niemand um ihre Kleidung. Heute war das allerdings etwas anderes. Ihre heutige Aufgabe führte sie ins Rampenlicht des Pressecorps, vor blitzende Kameras und Trauben von Mikrophonen. An der rechten Seite eines Mannes, dessen Finanzkraft und politischer Einfluss in der Europäischen Union gewaltig waren, erwartete sie ein Trommelfeuer an Fragen. Sie war sein Ohr und seine Stimme, und dafür musste sie ein tadelloses Erscheinungsbild präsentieren.
    Als unten in der Rue Bernegger eine Hupe ertönte, beschleunigte sich ihr Puls. Endlich! Sie griff nach Mantel und Tasche und rannte die Treppe hinunter. An der Haustür blieb sie einen Moment stehen, um den Regenschirm aufzuspannen und das Werk des teuren Friseurs wie auch das sorgfältige Make-up zu schützen. Dann stieg sie hinten ins Taxi ein und schüttelte den Schirm ab.
    «Sie sind spät dran.» Gegen ihren Willen klang sie verärgert.
    Der Fahrer zuckte die Achseln. «Höllenverkehr. Wann müssen Sie da sein?»
    «Um neun.» Sie hörte, wie er scharf die Luft einzog.
    «Das sieht nicht gut aus, Mademoiselle. Auf den beiden Brücken geht gar nichts mehr.»
    Ihr krampfte sich der Magen zusammen. Das Ganze wurde zum Albtraum. «Können wir dann nicht Richtung Stadtmitte fahren und von dort aus auf die Avenue de la Paix?»
    «Im Zentrum sieht es auch nicht besser aus. Das Einzige, was sich noch bewegt, sind die Straßenbahnen.»
    Sie seufzte frustriert. «Es ist wirklich wichtig, dass ich um neun da bin.» Zum Parlament wären sie einfach den Quai de l’Orangerie entlanggefahren, doch die Pressekonferenz fand im Palais des Congrès statt, dem riesigen Tagungszentrum an der Nordseite des Place de Bordeaux. Und um dorthin zu kommen, mussten sie zwei der unzähligen Gewässer überqueren, die Straßburg durchzogen.
    Starr vor Anspannung saß sie im Fond des Wagens und sah durch die verschmierten Scheiben undeutlich die dicht mit nassem Laub bedeckten Straßen der Stadt. Zuerst kamen sie gut voran, und sie schöpfte Hoffnung. Doch als sie die Brücke erreichten, die den Fluss zwischen dem Boulevard de la Dordogne und dem Boulevard Jacques Preiss überquerte, kam der Verkehr zum Stillstand. Der Schneeregen ging jetzt in Flocken über, die liegen blieben.
    Sie holte einmal tief Luft und spürte ein Zittern in der Kehle. Keine Chance, es noch irgendwie zu schaffen. Sie hatte dieses einwöchige Engagement in der Hoffnung angenommen, es könnte ihr als Sprungbrett dienen. Dabei hatte es sich auch noch nahtlos zwischen das Ende ihrer einjährigen Probezeit beim Europaparlament und den anschließenden Zweijahresvertrag mit vollem Gehalt eingefügt. In Kürze würde sie die Prüfung ablegen und von da an als akkreditierte Dolmetscherin bei der EU arbeiten – eine Zukunftsaussicht, die einer mehrjährigen Freiheitsstrafe gleichkam. Falls das Leben mehr zu bieten hatte, hätte sie gern jetzt gewusst, was es war.
    Und genau deshalb hatte sie bei dem Angebot, für den Italiener zu arbeiten, ohne zu zögern zugeschlagen. Der Mann war Generaldirektor eines namhaften Autoherstellers, wobei die Firma das meiste Geld allerdings mit Fernlenkwaffensystemen und Luftabwehrbatterien verdiente. Das Parlament drohte gerade, eine Genehmigung des Ministerrats für die Produktion von Antipersonenminen und Splitterbomben zu kippen. Im Unterschied zum Ministerrat, der die Zustimmung durch Mehrheitsbeschluss erteilt hatte, benötigte das Parlament zur Aufhebung dieser Entscheidung ein einstimmiges Votum. Was selten vorkam. Bei den heftig umstrittenen Landminen und Streubomben jedoch sah es ausnahmsweise einmal danach aus, als könnten die Abgeordneten sich tatsächlich zu einer einhelligen Meinung durchringen.
    Der Italiener war angereist, um den einen oder anderen Volksvertreter umzustimmen und vor allem die italienischen Abgeordneten unter Druck zu setzen, in deren Wahlbezirken Arbeitsplätze auf dem Spiel standen, falls der Vertrag zu Fall gebracht wurde. Er hatte Kirsty als Dolmetscherin engagiert, und
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